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Immer noch „Ja!“

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Jahrmarkttheater-Haus Bostelwiebeck feiert zehnten Geburtstag

Einen „berührenden, euphorischen, nachdenklichen, dankbaren und hinreißenden Abend“ hatte ich die Eröffnungsfeier des Hauses in Bostelwiebeck vor zehn Jahren genannt. Das Jahrmarkttheater um Thomas Matschoß und Anja Imig, damals seit fünf Jahren im Landkreis präsent, erfüllte sich im Februar 2013 den Traum vom eigenen Theater und gab den Open-Air-Spielplatz in Wettenbostel auf. Weiter ging es auf dem eigenen Hof und der neuen Bühne. Thomas Matschoß durfte sich Intendant nennen, man war nicht mehr so wetterabhängig und spielte das ganze Jahr. Mit vielen Gastauftritten, inzwischen regional und international vernetzt.

Thomas Matschoss und Maurice Schneider

Was kann Theater? Es soll glitzern, unterhalten und – belehren. Wir wollen uns ertappt fühlen, aber auch distanzieren. Theater ist die moralische Schaubühne wie bei Schiller, die den Menschen übers Gefühl erreicht, oder es sind die „glotzt-nicht-romantisch“-Bretter eines Brecht, der den Verstand gebraucht sehen will. Es soll eine Welt sein, von der Regisseur George Tabori einst sagte, dass deren Magie den Zuschauer an den Abgrund der eigenen Biografie schleudern solle. Und für die die Musen Kalliope, Thalia oder Erato ihre klugen Köpfe hinhalten. Voller Wortakrobatik und philosophischer Weisheit, angefüllt mit Klamauk, burleskem Spiel und musikalischer Brillanz.

Sina Schulz als Marlene

Das Jahrmarkttheater schrieb seine Erfolgsgeschichte der ersten fünf Jahre, die so umwerfend rasant und amüsant mit Shakespeares „Was ihr wollt“ begann, auch in Bostelwiebeck fort. Obgleich: Zu den insgesamt 30 Produktionen gehören inzwischen mehr und mehr selbst geschriebene Stücke, und ich weiß mich nicht allein mit dem Wunsch nach wieder mal einem Klassiker. Allein 26 Mal gab es die „Dorfgedanken“ mit Oma Sanne, einer Figur, mit der ich mich über die Jahre ausgesöhnt habe. Zumal die mir auch während des härtesten Corona-Lockdowns per täglichem Stream ein paar gedankliche Lichtblicke zukommen ließ. Mit reichlich 7000 Zuschauern rechneten die Jahrmarkttheater-Macher pro Saison. Das waren bis jetzt ab 2008 (Start in Wettenbostel) einschließlich des Corona-Cuts fast 100 000 Menschen, allein in Bostelwiebeck 30 000. Und deshalb dürfen die Akteure getrost „Ja!“ sagen (so wiederholt der Titel des Programms). „Ja!“ zum Leben, zur Kunst, zum Publikum.

Arne Imig, Markus Voigt, Arne Gloe

Ich kann nicht zählen, wie oft ich eine Veranstaltung des Künstlerpaares Matschoß/Imig und seinen Gästen mit einem Lächeln verlassen habe – oder tief nachdenklich nach Hause fuhr. Dass das in den letzten Jahren nicht mehr so oft vorkam, mag an mir liegen. Vielleicht genügt mir das „Sammeln von Themen auf der Dorfstraße und deren Aufbereitung für ein Publikum“, wie es die Begründung für den Theaterpreis 2021 schrieb, nicht ganz aus. Ich bin ja auch ziemlich fassungslos, dass man in Bayern erwägt, Goethes „Faust“ aus dem Deutschlehrplan zu streichen. Vielleicht passen wir nicht mehr zusammen, die neue Art Theater zu machen und ich?
Und deshalb konnte ich mit der Zehnjahresfeier in Bostelwiebeck nicht allzu viel anfangen.

Dort spielten Arne Gloe, Arne Imig und Markus Voigt als wunderbare Band. Es sangen Sina Schulz, Sophie Aouami, Kristina Brons, Kristin Norvilas, Tahere Nikkhoyemehrdad, Maurice Schneider, Maika Viehstädt, Quatis Tarkington, Anna Sinkemat und India Roth.
Am Anfang fehlten mir jedoch eindeutig eine Dramaturgie und ein Skript für die anzusagenden Worte. Da wurde viel zerredet. Ansonsten versuchten die Akteure ein „Best of“ der verflossenen Spielzeiten. Dass es dabei mehr Englisches als Deutsches gab, mögen andere passend finden.
Nein, die musikalischen Glanzpunkte fehlten keineswegs: Sina Schulz als Marlene Dietrich zum Beispiel. Die wunderbare Maika Viehstädt war auch da. Und vor Markus Voigt und Maurice Schneider an Posaune und Saxophon kann man nur knien. Vor Arne Gloe am Akkordeon sowieso, der beispielsweise zu Bert Brüggemanns Foto-Revue einen hinreißenden Musettewalzer spielte. Es gab ein bisschen Melancholie, ein Quäntchen Jazz, Country gar. Rap, Jive und A capella-Gesang. Und das Versprechen, auch in den nächsten zehn Jahren noch immer da sein zu wollen. Deshalb hatte man die Zuschauer auch gebeten aufzuschreiben, was bei ihrem Besuch im Jahr 2033 in Bostelwiebeck auf einem Spielplan stehen solle. Meine Antwort war: Auf jeden Fall einen Klassiker! Nicht vom Blatt, nein – sondern mit den Einfällen, der Ausstattung und meinetwegen auch einer Aktualisierung, wie man sie aus den Anfängen der Truppe kennt.

Mit einem gewissen Packen Hoffnung beladen, fuhr ich also nach zweieinhalb Stunden im Schneetreiben heim. Es ist nicht nur meteorologisch kalt in dieser Welt. Der Kunst, des Theaters, bedarf sie deshalb umso mehr. Vielleicht ist ja die Utopie nicht totzukriegen, dass jeder eine Bühne für ein kluges Wort, ein sehnsüchtiges Lied, eine kleine Melodie, einen wilden Tanz und eine verstehende Zwiesprache allzeit braucht. Um Mensch zu bleiben.

Barbara Kaiser – 27. Februar 2023

 

 

 

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