100 Jahre Radio in Deutschland
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Bilder im Kopf – Interview mit einem Radio-Macher
Carsten Schlüter ist Studioleiter beim Sender „Radio ZuSa“ hier bei uns in Uelzen. „Die neue Barftgaans“ hat ihm zum Jubiläum des Mediums einige Fragen gestellt.
„100 Jahre Radio“ – was für Gedanken kommen dir, wenn du das hörst?
Das Radio hat sich sehr verändert. Und man kann an „100 Jahre Radio“ auch sehen, wie sich die Medienlandschaft verändert hat. Am Anfang war es das Radio, vor dem sich abends die ganze Familie versammelt hat. Dann haben alle ganz andächtig dem RIAS-Orchester zugehört oder den Symphonikern. Damals wurden auch noch viele Hörspiele im Radio ausgestrahlt. Ich erinnere mich, dass die dienstälteste amerikanische Seifenoper im Radio begann. – Und dann kam das Fernsehen und alle haben sich vor dem Fernseher versammelt und geguckt. Und am nächsten Tag wusste man, dass alle Klassenkameraden und alle Freunde entweder gestern Abend „Edgar Wallace“ gesehen hatten oder die neue Folge mit Colt Seavers. Auf jeden Fall hat es kulturelle Identität gestiftet, was ja heute durch die Vielfalt und diesen unüberschaubaren Wust an Streamingdiensten nicht mehr gegeben ist. Wo die Medien früher die Leute zusammengeführt haben, dienen sie heute eher der Individualisierung. Das ist ein bisschen schade. Es wäre schön, wenn das Radio wieder mehr diese Bedeutung bekäme.
Welche Formate hörst du am liebsten im Radio?
Ich mag gut gemachte Reportagen mit Atmosphäre und sprachlichen Bildern. Aber davon haben sich viele Sender auch schon verabschiedet. – Oder aber die Genre-Grenzen verschwimmen immer mehr und niemand kann mehr eine Reportage von einem Feature oder einem Beitrag unterscheiden. Wenn mir mal eine Satire oder ein Hörspiel unterkommt, dann genieße ich das auch sehr.
Was kann Radio, was andere – vielleicht auch jüngere, modernere – Medien nicht können?
Sprache verdichten und Informationen komprimieren. Das ist etwas, was gerade in modernen Online-Medien ziemlich verkommt. Da geht es ja nicht mehr darum, auf den Punkt zu schreiben. Vor dem Kern kommt da meist ganz viel Einleitung, damit die Verweildauer des Nutzers auf der jeweiligen Seite länger wird. Also, wirklich prägnant sein und sich sprachlich fokussieren, das kann Radio auf jeden Fall – und das sollte Radio auch. Und dadurch, dass Radio auf Bilder verzichtet, regt es die Fantasie viel mehr an. Wenn ich zum Beispiel meine eigenen Hörspiele angucke: Als Film könnte ich die nie produzieren, so große Science Fiction-Opern oder Horror. Das geht im Radio, weil du nur die Geräusche brauchst und nicht die Bilder. Es ist um vieles einfacher – und erzeugt trotzdem die Bilder im Kopf.
Welche Formate produzierst du am liebsten? Was macht dir beim Radio am meisten Spaß?
Die Vielfältigkeit. Aber das ist auch etwas „ZuSa“-Spezifisches und nichts Radio-Spezifisches. Tatsächlich haben wir hier die Möglichkeit, einfach ganz viele Formate auszuprobieren und zu machen. Und ich habe an allem Spaß. Ich schreibe gerne Kommentare, habe sehr gerne Hörspiele gemacht, mache gerne Nachrichten. Ich mag auch Porträts unheimlich gerne, was im Alltag ein bisschen liegenbleibt, weil das Porträt sehr viel Zeit und Aufmerksamkeit erfordert. Es ist wirklich diese riesige Bandbreite, die hier bei „Radio ZuSa“ einfach möglich ist.
In Uelzen ist Radio durch „ZuSa“ fest in der Gesellschaft verankert. Welche Mehrwerte bietet der Sender dem Landkreis?
In unseren Statuten steht, dass wir den Auftrag haben, ein „publizistisches Ergänzungsorgan“ zu sein. Das heißt wir sollen eben nicht einfach die Tageszeitung abbilden. (Wobei wir etwa durch die Nachrichten und auch politische Beiträge natürlich immer an den aktuellen Themen dran sind.) Aber letztlich haben wir die Möglichkeit, uns auch selbst Geschichten zu suchen, die vielleicht nicht unbedingt im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Und dadurch, dass wir komplett werbefrei sind, sind wir auch in der komfortablen Lage, auf niemanden, der uns Geld gibt, inhaltlich Rücksicht nehmen zu müssen.
Wie können Uelzenerinnen und Uelzener sich bei „Radio ZuSa“ aktiv einbringen und mitbestimmten?
Unser großer Auftrag als Bürgersender ist es, Menschen an das Medium heranzuführen und ihnen die Chance zu geben, Radio zu nutzen. Jeder hat die Möglichkeit, hier eine Sendung zu gestalten. Wer das machen möchte, bekommt dann die Technik erklärt und bekommt mit, was er darf und was er nicht darf. – Wir dürfen eben zum Beispiel keine Werbung machen, weder für Wirtschaft noch für Parteien oder Religionen. – Und dann kann er seine Inhalte, so wie er sie produzieren möchte, im Radio senden. Das können gesellschaftspolitische Schwerpunkte sein. Das kann aber auch Musik sein. Wer das redaktionelle Kerngeschäft kennenlernen will, hat hier die Möglichkeit, je nachdem, wie viel Zeit und Engagement er mitbringt, im Grunde genommen das komplette Radio-Handwerk zu lernen, sämtliche Darstellungsformen, Nachrichten, Moderationen. Das geht, indem man hier ein Praktikum macht, ein Freiwilliges Kulturelles Jahr oder ein Volontariat oder indem man freie Mitarbeiterschaft anstrebt. Und gerade, weil wir so flache Hierarchien haben und wenig Personal *grinst*, ist es möglich, da auch sehr zeitig voll einzusteigen.“
Warum ist Radio nach 100 Jahren trotzdem nicht altbacken?
Weil es sich den Veränderungen angepasst hat. Das mag mal gut, mal schlecht gewesen sein. Aber Radio ist immer noch eine wichtige Plattform für Künstler, um ihre Musik breit zu streuen, weil wir es überall genießen können. Wir können uns ganz darauf einlassen und davor sitzen. Wir können es aber auch nebenbei hören und überall mit hinnehmen. Es mischt Information und Unterhaltung. Ich glaube, darum hat das Radio auch überlebt, weil es immer wieder geguckt hat: Wo liegen meine Möglichkeiten – mit dem Geschichtenerzählen, aber auch mit Musik? Und (Das mag man bedauern oder gut finden.) Radio ist auch sehr leicht konsumierbar.
[Katharina Hartwig und Hanna Lobitz]
Wichtige Stationen in der Geschichte des ersten Rundfunkmediums. Ein Zeitstrahl
1909
Der Italiener Guglielmo Marconi bekommt den Physik-Nobelpreis für die Erfindung des Radios – beziehungsweise für dessen Vorläufer, die Radiotelegrafie. Wie so oft in der Wissenschaft, gibt es aber noch Andere, denen diese Entdeckung ebenfalls zugeschrieben werden kann: Zeitgleich mit Marconi arbeiten etwa auch der Brite Oliver Lodge, der Kanadier Reginald Fessenden und Nikola Tesla in den U.S.A. erfolgreich daran, mithilfe von Radio-Wellen Botschaften kabellos zu übertragen.
1912
Der Luxus-Ozeandampfer „Titanic“ sinkt nach der Kollision mit einem Eisberg. Dank der Übertragung eines „S.O.S.“ mithilfe der neuen Technologie kann zumindest ein Teil der Passagierinnen und Passagiere gerettet werden. Auch militärisch wird die drahtlose Meldetechnik später im Ersten Weltkrieg immer mehr genutzt.
29. Oktober 1923
In Deutschland wird zum ersten Mal eine Radiosendung für ein ziviles Publikum übertragen. Sie beginnt mit den Worten: „Achtung! Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin im Vox-Haus auf Welle 400!“ Das erste Massenmedium ist geboren, denn mit einer Nachricht kann plötzlich ein riesengroßes Publikum erreicht werden – oder doch nur beinahe. Denn es herrscht Hyperinflation in Deutschland und eine Lizenz, um Radio empfangen zu dürfen, kostet Geld.
ab 1927
Autor Bertolt Brecht ist ein Verfechter des neuen Mediums, das am Ende der 20er Jahre bereits mehrere Millionen Deutsche erreicht. Seine Radiotheorie sieht das demokratische Potenzial des Rundfunks: „Er wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, wenn er es verstünde, den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen“ – was technisch einfach umsetzbar ist. Brecht fordert Interaktivität, so wie wir sie heute vom Internet kennen.
1933
Unter Federführung des Propagandaministers Josef Goebbels entsteht drei Monate nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten der sogenannte Volksempfänger, das erste wirklich erschwingliche Radio auf dem deutschen Markt. Goebbels hat die Möglichkeiten des Radios erkannt und will sie für seine Propaganda nutzen. Mit ihrer Rundfunkpolitik machen die Nationalsozialisten das Radio nun tatsächlich zu einem Medium, das die Massen erreicht.
30. Oktober 1938
Kurios: Eine Radiohörspiel des U.S.-amerikanischen Senders „CBS“ sorgt für Verwirrung und „Fake News“. Es handelt sich um „Krieg der Welten“ von Orson Welles, in dem Außerirdische die Erde angreifen. Radioreporter berichten im Hörspiel scheinbar live vom Geschehen. Trotz regelmäßiger Hinweise auf deren Fiktivität im Programm, halten einige Menschen die Ereignisse für echt, kontaktieren die Polizei oder den Sender. Zeitungsreporter bauschen das Ganze später zu einer eingeblichen „Massenpanik“ auf.
7. Mai 1997
Zu den bedeutenden Radiomomenten gehört für Uelzen auch der offizielle Start des Lokalradios „ZuSa“ – vorher gab es hier schon einen Radioverein. Der Name des neuen Senders steht für Zucker und Salz, denn er hat von Anfang an zwei Studios: Eins in Uelzen, der Stadt mit der prominenten Zuckerfabriks-Silhouette und ein weiteres in der Salzstadt Lüneburg.