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Beliebtes It's Trumann

ANSTAND

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„Man kann sich auch anstellen…“, scherze ich gern, wenn mir auf dem Wochenmarkt unter den Anstehenden vertraute Gesichter und Hinterköpfe ins Blickfeld geraten. Meist wird meine Bemerkung gut gelaunt ignoriert oder mit einer Gegenbemerkung quittiert. Manch lange Menschen-Schlange, an der ich am Samstagvormittag nahezu bedürfnislos vorüberschlendere, bildet sich besonders an Bäckerei-, Fleischerei- und Gemüse-Ständen.
Die Kundinnen und Kunden hier werden nicht vergeblich anstehen. Man soll sich ja nicht vergleichen. Aber mit Bildern im Gedächtnis von Warteschlangen in der DDR oder, aktuell, bei Hilfstransporten, denen in afrikanischen Dürregebieten oder im Gazastreifen die Mittel ausgehen, weiß ich: wir haben es ausgesprochen gut. Für die Verfügbarkeit und Auswahl all der Lebens- und Genussmittel nicht froh und dankbar zu sein, wäre da nahezu unanständig.
Auch mir „wird nichts mangeln“, selbst wenn ich mittags am Stand kein Wiener Würstchen mehr bekomme und mein Lieblingsbrot beim Bäcker ausverkauft sein sollte – weil ich erst kurz vor Markt- und Ladenschluss da bin. Es gibt ja auch noch super Märkte in der Nähe, wo der Singlehaushalter mit seinen drei Artikeln nicht selten an der Kasse einen Großeinkauf überholen darf. Das finde ich super, nicht wirklich nötig, aber hoch anständig.
„Super anständig“ fand ich auch die Entscheidung eines Cafés – den Klagen, dass alles immer teurer wird, ein wenig den Wind aus den Backen zu nehmen – den Kaffeepreis zu senken, statt ihn, wie erwartet, zu erhöhen.
„Über den Anstand in schwierigen Zeiten und wie wir miteinander umgehen“ schrieb der Journalist Axel Hacke 2017 ein Buch. Der Autor versteht Anstand als eine Sache grundlegenden Respekts gegenüber anderen Menschen. Ich kann mich diesbezüglich nicht beklagen. Es gibt aber auch andere Stimmen und Erfahrungen.
Wenn die Band PUR vor dreißig Jahren, in Anlehnung an den 200 Jahre alten Roman J. F. Coopers, fragte: „Wo sind all die Indianer hin?“, die „wie Chingachgook für das Gute stehen. Als letzter Mohikaner unter Geiern nach dem Rechten sehen“, dann meiden die Gemeinten vielleicht anstandshalber eine kulturelle Aneignung. Ihre Haltung ist aber doch noch zu erleben – nicht als die eines Anstands-Wauwaus, der seine Meinung und Überzeugung überall dazwischenbellt. Das kann lästig wirken und am Ziel vorbeiführen.
Das freundlich-gelassene Nach- und Miteinander der Vitalmarkt-Besucher in alle Lebensbereiche hineinzutragen, wäre gewiss eine anständige Bereicherung.

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