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Wenn die Worte fehlen

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Unser kleines Stadtatelier für kreative Inklusion

Sie, 18, hatte aus der Ukraine flüchten müssen und sprach anfangs weder deutsch noch englisch. Doch wir haben uns vom ersten Moment an verstehen können. Warum? Sie hat gesungen.
Musik lässt (mit)fühlen, erinnern, leichter lernen … Manchmal genügt ein kleiner Musikfetzen und alles ist (wieder) da. Im Herzen, im Gedächtnis …
Was tun, wenn wir die Sprache unseres Gegenübers nicht sprechen? Den Google-Übersetzer zu nutzen, ist eine praktische erste Möglichkeit. So eine Technik ist hilfreich, doch für echtes Verständnis braucht es auch Gefühle. Dazu kommt, dass es auch Menschen gibt, denen aus anderen Gründen die Worte fehlen.
Zu uns kommen auch Deutsche, die Unaussprechliches erlebt haben. Es gibt viele seelisch erschütterte Menschen, die in der Öffentlichkeit kein Wort über die Lippen bringen können.
Unser kleines Stadtatelier ist durch die Emofotologie, die ehrenamtliche Selbsthilfefotografie, bekannt geworden. Mittlerweile spielt die Musik eine genauso große Rolle. Auch die Malerei und das Schreiben sind unverzichtbar geworden. Doch dieser Artikel gehört der Musik.


Den Gesang jener Ukrainerin haben Marco und Tom, zwei unserer Ateliermusiker, instrumental begleitet. Wir alle konnten die gesungenen Worte nicht verstehen, aber wir konnten mitsummen, mitfühlen, mitweinen und mithoffen. Als sich später eine russisch sprechende Mitmacherin zu uns gesellte, haben wir den Liedtext übersetzen lassen. Jene junge Ukrainerin ist inzwischen wieder in ihrer Heimat: „Zuhause“. Sie hat in ihren Monaten in Uelzen viele deutsche Worte gelernt und wir halten per WhatsApp noch Kontakt.
Nie werde ich auch den Tag vergessen, an dem uns eine Uelzener Familie zusammen mit einer ukrainischen Mutter und deren Kindern besucht hat. Verbal fehlten uns in jenen Stunden wieder die Worte. Bis eine der ukrainischen Jugendlichen unsere Ukulele zur Hand genommen hat. Dieses plötzliche Miteinander war unbeschreiblich. Das Baby kuschelte sich an Therapiefropsfräulein Pfiffigenie, die kleineren Kinder schüttelten alle Percussion-Instrumente, die sie finden konnten, im Takt der Musik, während der Klang der Ukulele unsere Herzen berührte. Die Magie der Musik wirkte tröstlich. In den Wochen danach habe ich jedes Musikinstrument in Unser kleines Stadtatelier geholt, das wir uns leisten konnten. Gitarre, Akkordeon, E-Piano, Schlagzeug … Es ist jetzt alles vor Ort, was es braucht, um zu jammen, zu komponieren, zu fühlen … Vieles wurde dank Art of Music für uns bezahlbar. Und seit Januar haben wir auch ein Klavier, ein Klavier …

Ich habe mich mit unserem Ateliermusiker Marco Jordan (Bass, Schlagzeug, Musikproduktion …) mal über unsere Musiknachmittage unterhalten:

Brigitte: Du magst Musik und Geräusche und alles dazwischen. Seit einigen Monaten spielst du ehrenamtlich bei, mit und für uns. Angefangen hat es, als du, nach unserem ersten Telefonat, für Ronja dein Schlagzeug in die Werkstatt gestellt hast. Einfach so.
Marco: Mich hat euer ehrenamtliches Engagement begeistert. Und du hattest mir erzählt, dass sich deine Lieblingskollegin schon immer an einem Schlagzeug ausprobieren wollte. Mich hat allerdings auch interessiert, ob das Üben am Schlagzeug, neben all dem Spaß, auch etwas für Ronjas motorische Fähigkeiten tun kann.
Brigitte: Weil sie im Rollstuhl sitzt? Ich war beeindruckt davon, wie schnell Ronja – auch dank Deiner Anleitung – Fortschritte gemacht hat. Du und Tom (Gitarrenlehrer, Sänger) habt es zudem geschafft, dass Ronja und ich (gesanglich eher die Tiefbegabte), auch vor vollem Haus unsere eigenen Songs singen und rappen.
Marco: Der Groove einer Stimme ist leichter wahrzunehmen, wenn ein rhythmischer Kontext geschaffen wird. Durch Toms Gitarrenspiel entsteht ein Kontext zum Gesang. Mit meinen Rhythmus- und Harmonie-Instrumenten gebe ich weitere Unterstützung. Wir können mit unseren instrumentalen Beiträgen Gesang noch verständlicher machen.
Brigitte: Hast du in deiner Zeit bei uns auch dazu gelernt?
Marco: Gemeinsam Musik zu machen, ist anders, als allein zu spielen. Dadurch, dass so viele – und auch immer wieder neue Interessierte – kommen, kann sich auch immer wieder etwas verändern. Musik vermag Stimmungen und Menschen zu verändern. Menschen vermögen Musiken zu verändern.
Auch habe ich gemerkt, dass ich durch unsere Musik Menschen näher, eher und anders kennenlernen kann als ohne Musik.
Natürlich hat es für mich, seit ich im Atelier spiele, auch persönliche Entwicklungen gegeben. Dadurch, dass ich spielen wollte, sollte oder musste, immer auch im Hinblick auf die jeweilige sowie auch wechselnde Gruppenzusammensetzung. So ist mein Spielen vielseitiger und flexibler geworden. Weil ich versuche, die Ideen anderer zu unterstützen. Weil Musik helfen kann aus sich herauszukommen. Sicher auch ein Grund, warum Tom sich so für Musiktherapie begeistert. Und du vermagst mit deiner Art der Selbsthilfefotografie ja auch bei der Selbstorientierung behilflich zu sein.
Brigitte: Wobei ihr mit der Musik schneller sein könnt.
Marco: Musik ist im Moment. Damals noch mehr als heute.
Brigitte: Stimmt. Musik war früher nicht von überall abrufbar. In den Steinzeithöhlen gab es kein Radio. Aber dafür Knochenflöten und Schlaginstrumente.
Marco: Haben wir darum im Atelier jetzt auch bemalte Knochen hängen?
Brigitte: Du hast es erfasst. Und ich merke oft, wie du auch die Stimmung eines Gegenübers erfasst. Bereits als du zum ersten Mal mit Tom gejammt hast, war ich erstaunt darüber, wie ihr euch ohne ein Wort zu sprechen verstehen konntet.
Marco: Das ist dieses Frage-und-Antwort-Zeugs in der Musik, das auch ohne Worte funktioniert. Eine Stimmung zu beschreiben, dauert länger als sie zu anzuspielen.
Brigitte: Euer Zuspiel ist also eine Art musikalisch-emotionales Pling-Plong?
Marco: So in etwa.
Brigitte: Unsere Musiktage sind meine Wohlfühltage. Ich spüre intensiver, bin emotionaler, lache und weine mehr. Singe, ohne dass es mir peinlich wird, auch mal so lauthals und schräg mit wie sonst nur beim Autofahren. Oder gucke fasziniert zu. Beispielsweise deiner Fingerfertigkeit an den Basssaiten oder auf den Klaviertasten. Ich bin mit allen Sinnen an den Musiknachmittagen dabei.
Wo wir gerade vom Klavier sprechen: Unser neues altes Klavier sorgt für noch mehr Flair in unseren Räumlichkeiten. Der Retro-Charme des Klaviers ist nicht zu toppen. Und sein Klang geht bei mir immer durch den ganzen Körper. Es ist wie bei der Fotografie. Ein digitales Bild, auf dem Computerbildschirm betrachtet, weist nicht so viel Wertschätzung für das „Model“ auf und geht nicht so unter die Netzhaut, wie ein echtes, sorgfältig arrangiertes Bild an der Wand oder in der neuen Barftgaans. Seit wir dieses Klavier – Danke-Danke-Danke!!! – von dem lieben Ehepaar Kersjes geschenkt bekommen haben, berühre ich es jeden Tag auch oft im Vorbeigehen. Und seit es von KostialPiano liebevoll gewartet und gestimmt worden ist, verging keine Woche, in der es nicht Menschen zu Freudentränen gerührt hat. Ich denke, es hat seinen Grund, dass an unseren Musiktagen mittlerweile bis zu über 30 Mitmacher*innen/ Besucher*innen in Unser kleines Stadtatelier kommen.
Marco: Sollen wir sagen, was wir musikalisch noch so planen?
Brigitte: Bilder und Lesungen musikalisch und mit Geräuschen untermalen, tanzen mit Timo, steppen, Live-Sound-Kulissen erstellen, die eigenen Stücke aufnehmen … Ich wünsche mir dafür einen veganen Suzie-Quatro-Lederanzug und meine Figur von damals. Und wenn ich Klavier spielen könnte, dann auch: Ein bisschen Frieden … [Brigitte Schulz und Marco Jordan]

Mehr Informationen: Unser kleines Stadtatelier für kreative Inklusion e.V. – www.emofotologie.de und eine Langfassung des Interviews finden interessierte Leser*innen auf barftgaans.de

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