Revue in Pink
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Fotos: Barbara Kaiser
Zur Sommerpremiere 2023 im Jahrmarkttheater Bostelwiebeck
Nein, die Rede geht hier nicht vom Barbie-Film, der ja auch in Himbeerrosa versinkt. Lieblich und süß geht es auf dem Gelände des Jahrmarkttheaters in diesem Sommer auch nicht zu. Aber Kostüm- und Bühnenbildnerin Anja Imig hatte sich diese Farbe nun einmal vorgenommen: Etwas Schreiendes, Aufmerksamkeit Heischendes. Pink eben.
Die Sommer-Open-Air-Premiere in Bostelwiebeck versucht sich in diesem Jahr an der philosophischen Frage des Verschwindens und welche Spur Dinge hinterlassen, die weg sind, nicht mehr zur Verfügung stehen. Werden wir sie vermissen? Der Mensch, der auch irgendwann von dieser Erde verschwunden sein wird – und zwar wegen eigenen Versagens – hinterlässt zurzeit eine Spur der Verwüstung auf diesem Weg. Vielleicht muss man das mitdenken.
Der Plot: Wir als Zuschauer, die eigentlich im Jahr 2367 leben, vorausgesetzt dass – siehe oben, machen eine Zeitreise. Wir besuchen ein Museum, das das Jahr 2023 erklären will. „We travel in the time-machine!“ lautet der Entree-Song. Reisen wir in der Zeit zurück. Fantasie einschalten und los! Wie betreten das „Museum des Jahres 2023“, in dem uns die Museums-Guides (in Pink!) an verschiedenen Stationen erklären, wie es damals war, was es nicht mehr gibt. „Wir feiern das Verschwinden mit einem Museum!“ Ist das wirklich einen Jubel wert?
Der große Zeitstrahl hatte einen Vorgeschmack der Entwicklung gegeben: Im Jahr 2065 waren Papier im Büro und Urlaubskreuzfahrten verschwunden. Im Jahr 2098 ist die Massentierhaltung endlich Geschichte, die Korallenriffe haben allerdings auch kapituliert. Außerdem wurde der Literaturnobelpreis abgeschafft, weil nicht nur Literatur inzwischen von der künstlichen Intelligenz erschaffen wird. Im Jahr 2188 hat endlich jeder eingesehen, dass Faschismus keine Gesellschaftsform ist, die Probleme löste. Plastik ist dann auch von der Bildfläche verschwunden – aus dem Meer sicherlich noch nicht. In 2216 gibt McDonald`s auf – es lebe die gesündere Ernährung! Hoffentlich nicht aus dem Labor. Die Religionen sind im Jahr 2197 ein Auslaufmodell und bis 2355 wurden alle Kriege eingestellt. Und die Steuererklärung überflüssig.
Aber was ist nun besser im Jahr 2367? Immer vorausgesetzt, die Erde gibt es bis dahin noch, woran ich persönlich sehr zweifle. Was aus dem Jahr 2023 hätten wir dann gerne zurück? Bedauern wir das Verschwinden des Papiers, der Instrumente, von Literatur und Musik, und dass ein Drittel der heute 6500 Sprachen verschwunden sein wird? Weinen wir den Gefühlen wie Liebe, Hass, Sehnsucht und Schmerz nach, wenn es das Weinen denn noch gibt? Postkarten aus dem Urlaub schreibt keiner mehr (Ich gebe zu, mein Kontingent von rund 25 Stück in vergangenen Jahren bereits drastisch reduziert zu haben, allerdings aus Kostengründen!), künstliche Intelligenz produziert auch alle Songs für irgendwelche Wettbewerbe, wobei sogar Deutschland wiedermal in den Genuss von „twelf points“ kommen könnte. Falls das Land die Entwicklung der KI nicht total verschläft.
Die Theaterproduktion des Jahrmarkttheaters versammelte 22 Akteure: Künstler*innen, Ausstatter*innen, Musiker*innen, Techniker und Autoren aus Australien, Hamburg, Berlin, Stuttgart, Südtirol und der Ukraine. Es ist die umfangreichste und wahrscheinlich auch aufwendigste Premiere, die Bostelwiebeck sah. Hat sich der Aufwand gelohnt?
Das Publikum mag zwiegespalten sein, wenn es das „Museum“ verlässt. Ja, es gab ausgreifend assoziative Momente, aber auch Symbolkitsch. Die Aufführung hatte tief berührende Augenblicke, vor allem die der Stille, aber genauso den Drang, sich beim Publikum anzubiedern und zu gefallen. Da war viel Platz für Poesie, aber auch ein hektisches Flackern von Bildungsschnipseln. Es war eine temporeiche und vielfarbige Inszenierung, aber immer auch auf Augenhöhe unserer Verzwergung. Manchmal machte das Theater das, wodurch es definiert wird: Dem sonst nicht Hör- und Sichtbaren eine Bühne geben. Manchmal aber hielt man sich das Stück vom Leibe, vergrößerte die Distanz, obwohl man doch mitten drin saß.
Beispiele: Nachdenklich machen darf schon, dass wir nicht in der Lage sind, aus dem Hamsterrad auszubrechen, dem Hier und Jetzt und der Stille magische Momente abzugewinnen. Da sitzen drei auf einer Mauer und regen sich nur auf, dass der Sonnenuntergang nervt und die Windräder – dabei bilden die gerade ein wunderschönes Ensemble. Machen sich vor, dass sie so gar nicht an die Konferenz morgen denken, und belügen sich damit selbst. Oder die stets frohgemute Antwort auf die Frage, wie es einem gehe. Erwartet der Frager eigentlich ein ehrliches Bekenntnis? Nein, denn es könnte ihn in Bedrängnis bringen, helfen zu müssen. Deshalb werden Gefühle im Jahr 2367 abgeschafft sein. Wollen wir das wirklich?
Eine schöne Szene ist die mit der Literatur. Was hatte Goethe doch für einen wunderbaren Wortschatz: „Gravitätisch“, „Kanapee“ (das ist nichts zu essen!), „fürderhin“, „impertinent“ oder „Frauenzimmer“ (was keineswegs ein Zimmer für Frauen ist!). Und wenn dann ein Auszug aus Haydns „Schöpfung“ erklingt, kann es doch nicht sein, dass die Menschen zulassen werden, dass es diese Musik nicht mehr gibt!
Für Freunde des Klamauk die „Installation: Wir fliegen in den Urlaub“. Wobei das einer gewissen Komik nicht entbehrte, weil jeder den Stress vor einer Abreise kennt. Und obendrein gibt es die Botschaft, dass der Flug zu viert nach Lanzarote viereinhalb Tonnen CO² ausstößt. Wir sollten uns erinnern, wenn im Jahr 2258 Urlaube und Skifahren abgeschafft sind!
Sehr poetisch geht es zu beim „Requiem für blühende Schönheiten“. Rund zwei Dutzend zauberhafte Aquarelle mit Blüten liegen in einer Vitrine, dazu erklingt Musik. Die Theaterbesucher sollten einfach mal in sich gehen – zwei diskutieren trotzdem über den Wachstumsstand der Tomaten im Gewächshaus daneben. Wundern wir uns eigentlich, dass die Welt zugrunde geht? Melancholisch und kontemplativ: die Musik aus dem kleinen Flachsfeld. Aber die Menschen können einfach nicht ihre Klappe halten und der Natur mal zusehen…
Am Schluss singt der Chor der Darsteller*innen: „Jedes hat hier seinen Platz, hier, überall und zu jeder Zeit. Das Fremde ist uns nur fremd, solange wir uns selber nicht erkennen.“
Noch haben wir die Chance, die Erde zu bewahren. Wenn die „Spur des Verschwindens“ einen Beitrag dazu geleistet hat, dass wir wenigstens darüber nachdenken, was uns fehlte bei all den nicht mehr existierenden Dingen – dann hat es eine Menge geleistet.
Premiere für das neue Stück in Bostelwiebeck ist am morgigen Freitag, 21. Juli 2023, um 19.30 Uhr. Weitere Aufführungen bis Mitte August siehe www.jahrmarkttheater.de
Barbara Kaiser – 20. Juli 2023