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Feuilleton

Menschen und eine kluge Ratte

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Wie Literatur ohne Nabelschau auch gehen kann

Was ist bloß mit der deutschen Gegenwartsliteratur los? Warum dreht die sich immer nur um den eigenen kleinen Geist, die eigene Befindlichkeit? Und dann dieses, um mal aus dem „Faust“ zu zitieren: „Wo so ein Köpfchen keinen Ausgang sieht,/ Stellt er sich gleich das Ende vor.“ Die Rede geht hier von „Über Menschen“ von Juli Zeh. Ist es denn die Möglichkeit, dass eine erfolgreiche Frau in der Hälfte des Lebens keinen Ausweg mehr sieht, als sich in die Einöde zurückzuziehen? Nach Bracken in Brandenburg, den Landstrich kannten wir schon so ähnlich von „Unter Leuten“. Der neue Roman ist aber keinesfalls die gelungene Fortsetzung der „Leute“, die vor allem durch die Regie von Matti Geschonneck zum erfolgreichen Fernsehmehrteiler wurden.

Da kommt diese Dora also in Bracken an. Ausgebrannt von der ständigen Erreichbarkeit im Beruf, genervt vom fast militanten Umweltprotest ihres Lebensgefährten. Corona macht das Leben nicht einfacher – also: Flucht. Die Autorin zieht mit dem Titel offenbar die Schraube eine Drehung höher. Der Schlüsselsatz steht auf Seite 128: „In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über Menschen erheben.“ Gemeint sind ignorante Politiker genauso wie arrogante Großstädter, die es nicht gewöhnt sind, dass nur zwei Mal am Tag der Bus fährt, das WLAN wackelt bei Überlastung und der Nazi gleich nebenan wohnt.

Und damit geht das Dilemma los, das das Buch am Ende eher zu einem romantischen Roman à la „Gartenlaube“ macht. Oder würden Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, mit einem, der am Abend zuvor mit zwei Kumpels lauthals das Horst-Wessel-Lied grölte, anfreunden wollen? Zudem besitzt der Mann null Charme, ist gesprächig wie ein Karpfen, sieht nicht mal gut aus und mit der Körperpflege nimmt er`s auch nicht so genau. Obendrein pöbelt er gegen die ausländischen Arbeitskräfte, die das schwule Pärchen (auch so ein Klischee) Tom und Steffen auf seinem Hof beschäftigt. Was für ein Zeitgenosse! Dass die Hauptperson Dora seine Nähe zulässt, sich sogar wohlfühlt dabei und in missionarischem Eifer die Ursachen für derlei Einstellung erkunden will, ist ein kruder Plot. Die „Übermenschen“ gibt es noch einmal im Programm von Steffen, der nämlich eigentlich Kabarettist ist, aber wegen der Pandemie – Sie wissen schon: „Wisst ihr noch? Ist gar nicht lange her. Vor siebzig, achtzig Jahren. Da wart ihr Übermenschen. Da wart ihr Herrenmenschen. Blonde Rassehengste auf dem Weg zur Weltherrschaft. Philosophen haben euch beschrieben, Komponisten haben euch besungen, fremde Länder haben vor euch gezittert, und das Volk ist hinter euch hergedackelt. Und heute? Heute sitzt ihr am Campingtisch. Hinter euch der Bauwagen, vor euch warmes Bier. Ihr raucht polnische Zigaretten, salutiert vor der Reichsflagge und malt euch eigene Personalausweise. Übermenschen im Unterhemd.“ So einfach schwarz, beziehungsweise braun, ist es allerdings heute nicht mehr. Als Brandenburgische Verfassungsrichterin sollte Juli Zeh das eigentlich wissen. Kurzum: Das Buch ist weder sprachlich ein großer Wurf noch reflektiert es gesellschaftliche Zustände. Auch der fehlende Wechsel der Perspektiven, was „Unter Leuten“ so interessant gemacht hatte, fehlt. Man schaut auf alles durch Doras Brille. Schade.
Ähnlich erging es mir mit dem hochgelobten „Daheim“ von Judith Hermann. Da flieht die Protagonistin an die Nordsee auf der Suche nach neuem Lebenssinn, nachdem die Kinder aus dem Haus sind. Dort gibt es auch so einen Kerl, der nach Stall riecht und nicht viele Worte zu machen in der Lage ist. Haben solche Typen eine animalische Anziehungskraft auf städtische, übersättigte, unzufriedene Frauen? Sind sie Antipode? Mir fehlt das Verständnis dafür völlig.

Aber damit es hier den positiven Schluss gibt: Gelesen habe ich auch „Die Geschichte des Menschen. Erzählt von einer Ratte“ von Kerstin Decker. Nun will man sich ja ungern von anderen eigenes Leben erzählen lassen. Wie schief das geht, erleben wir seit 30 Jahren, wo der Westen die Deutungshoheit über ostdeutsche Geschichte übernahm. Und nun von einem Nagetier – was kann das schon wissen? Aber: Ich habe selten in den letzten Jahren so ein witziges, kluges, fundiertes, einfallsreiches, nachdenklich machendes Buch gelesen! Das ist Superlativ, und den verdienen die 400 Seiten auch. Da erzählt uns das so viel geschmähte kleine Tier die Sintflut neu, wie das mit der Pest war oder wie die Menschen letztlich sesshaft wurden. Ratten sind schlau, schließlich nagen sie schon seit Jahrhunderten an schriftlich aufgezeichnetem Wissen überall auf der Welt. Deshalb weiß die hier etwas über unseren Schlaf und die Geschichte der Medizin überhaupt. Sie kennt sich aber auch politisch aus: Columbus` Amerikaentdeckung, Kernwaffentests, Welt-Erschöpfungstag, Chinas Sozialkreditsystem oder die Neue Seidenstraße – die kleine graue Erzählerin weiß es. Inklusive Verweisen auf Philosophie, Kunst, Globalisierung, Klimawandel und soziale Ungerechtigkeit. Wird sich die Menschheit selber zugrunde richten? Die kleine Ratte vermutet auch dazu Wichtiges. Was für ein wunderliches, wunderbares, herrliches Buch!

[Barbara Kaiser]

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