Herzschlag des Lebens
Gedanken zu 75 Jahre Kulturkreis Uelzen
Kultur sei „jeder zweite Herzschlag unseres Lebens“, sagte der Spanienkämpfer und Mitbegründer der Akademie der Künste der DDR, Hans Marchwitza, vor einem halben Jahrhundert. Der Satz stand an einer Wand des Potsdamer Kulturhauses zu lesen. Ob es das Haus überhaupt noch gibt, vermag ich nicht zu sagen. In Uelzen durfte in diesem Herbst der 75. Geburtstag des Kulturkreises gefeiert werden. Es war eine kleine Veranstaltung mit geladenen Gästen am 4. November im Ratssaal. Ein paar Reden, ein wenig Musik. Der stattlichen Zahl auf der imaginären Geburtstagstorte kaum angemessen, und nicht alles ist Corona geschuldet. Wie anders noch war der 60. Geburtstag begangen worden! Mit einer gelungenen Publikation, die 51 Aufsätze über das Wirken an der Baustelle Kultur zusammenfasste. Man versammelte sich zur Feier im Schloss Holdenstedt – auch so eine Unternehmung, die heute ausgeschlossen ist, es gab Sekt und die Erinnerung an die schweren Anfänge und die nicht minder leichte Fortsetzung in unseren Tagen, Kultur einzukaufen, anzubieten und zu organisieren.
„Es gibt Kommunen“, so sagte der damalige Vorsitzende Georg Lipinsky in seinen Begrüßungsworten, „die darüber nachdenken, die Theater abzuschalten, sie wirtschaftlichen Gründen zu opfern.“ Aber, so gab der Redner weiter zu bedenken: „Kultur ist teuer, aber keine Kultur zu haben ist noch teurer!“ Auch beim damaligen Bürgermeister Otto Lukat traf die Reklamation für Kultur auf offene Ohren. „Ich nehme bewusst das Wort Volksbildung in den Mund“, erwiderte er Lipinsky. Kultur rechne sich nicht, „aber wir haben den Auftrag, für sie zu sorgen… mit gerechtfertigten Zuschüssen“.
Die Mitglieder des Kulturkreises tun das jetzt seit 75 Jahren im Ehrenamt. Dass dies der hohen Qualität der Angebote nie Abbruch tat, davon konnte sich jeder Theater- und Konzertbesucher überzeugen. Die Festschrift von damals, die die Kultur feierte, das kulturelle Leben und seine Entwicklung in dieser Stadt hochleben ließ, las sich oft auch wie eine Komödie. Die Macher nannten das Buch damals „Das Gelbe vom Ei“, was dem Herzschlag des Lebens doch recht nahe kommt. Heute kommt es manchmal eher einer Tragödie nahe, verschreibt man sich der Aufgabe des Kulturkreises. Dabei ist es nie anmaßend, wie Lipinsky damals erklärte, sich so wichtig zu nehmen, sich das Gelbe vom Ei zu nennen. Denn wer sich so lange um Kultur kümmert, kann nicht anmaßend genug sein. Schließlich haben die meisten von uns in den vergangenen anderthalb Jahren gemerkt, was fehlt, wenn Theater und Konzertsäle geschlossen bleiben.
Und wie viele Hürden gibt es! Sie scheinen in den letzten Jahren nicht niedriger geworden zu sein. Es sind heutzutage meist finanzielle, damit jeder die Gelegenheit und obendrein die Möglichkeit hat, wie es Goethe in seinem „Wilhelm Meister“ beschrieb: „Man sollte… alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.“
Wie viele „kleine Lieder“ die Uelzener zu hören bekamen, stand in dieser großartigen Publikation. Wie sie im Jahr 1988 ihren neuen Flügel zusammensparten zum Beispiel. Der wurde damals mit Mozart und Justus Frantz eingeweiht! Aber auch über den Kuhlau-Wettbewerb steht geschrieben, über die St.-Marien-Kantorei und den Spielmannszug Veerßen. Die gibt es zum Glück alle noch! Aber es gab früher auch einen Musiktheaterring: Große Oper neben Flöten und Trommeln – das war das Musikleben hier. Denn: Mit der Fusion der Landesbühne Hannover mit dem Stadttheater Hildesheim kam im Jahr 2007 „Der Freischütz“ ins Theater. Man sollte meinen, so rundete sich ein schönes Mühen.
Was die „guten Gedichte“ angeht, so gab es das Sprechtheater von Beginn an. Und auch die „trefflichen Gemälde“ kommen nicht zu kurz in der Kulturlandschaft Uelzen. Der Kunstverein Uelzen hatte gerade mal die Hälfte der Zeit geschafft, die der Kulturkreis mit sich schleppte, geht aber auch schon auf die 50 inzwischen. Die privaten Galerien waren vor 15 Jahren in den Kinderschuhen, inzwischen sind sie wieder geschlossen.
Es sind, um bei Goethes Wunsch zu bleiben, viele vernünftige Worte gesprochen worden, was die Beförderung der Kultur in Uelzen angeht. Unvernünftige auch, jawohl, aber die haben niemals bürgerschaftliches Engagement zudecken und dessen Ergebnisse kleinreden können. Die 60 Jahre Kulturkreis waren eine Erfolgsgeschichte. Und die 75? „Uelzen wartet mit einem breitgefächerten und reichen Kulturangebot auf, das im Wesentlichen dem ehrenamtlichen Element im Kulturkreis zu danken ist“, sagte Georg Lipinsky für diesen Artikel auf die Frage, was ihm der Kulturkreis sei. Und absolut unabgesprochen erklärte Otto Lukat: „Der Kulturkreis ist das Rückgrat der Kultur in Uelzen und das überwiegend im Ehrenamt!“ Die Missbilligung, dass die Stadt Uelzen das Outsourcing eines Eigenbetriebs vollzog, der jetzt „ Stadtmarketing, Tourismus und Kultur“ heißt – die Kultur natürlich an letzter Stelle! –, schwingt in beiden Antworten deutlich mit. Ja, die Stadt hat sich für die Sanierung und nicht für die Schließung des Theaters entschieden. Das ist die gute Nachricht. Aber wie wird das teure Haus danach bespielt werden? Die Veranstaltungszahl des Theaterrings und die des Symphonischen Rings wurden in den letzten Jahren aus Kostengründen (!) reduziert. Ein großes Sinfonieorchester kann man sich nur noch fürs Neujahrskonzert leisten. Die Theateraufführungen verpflichten meist freie Bühnen, die wahrscheinlich in den Honorarforderungen auch variabel sein müssen um den Preis des eigenen Überlebens.
Wer hatte nicht alles einmal in Uelzen gastiert! Auch in Zeiten, als es noch nicht das Theater an der Ilmenau gab und in ungemütlichen Sälen gespielt wurde. Heinz Erhardt war da und Dietmar Schönherr. Inge Meysel, Grit Boettcher, Will Quadflieg, Peter Weck und Curd Jürgens kamen, weil es auf dem Lande zu essen gab! Was damals mehr als jede Gage bedeutete. So war das in der Nachkriegszeit. Kein jüngerer Mensch dächte heute darüber nach. Und die aktuellen Stars sind satt, zu satt auch. Seltsame Vorstellung, Helene Fischer gäbe ihr Konzert für einen Sack der feinsten Heidekartoffeln. Die Preise für ihre aktuelle Tournee pendeln zwischen 75 und 170 Euro! „Kulturarbeit auf breiter Grundlage“, titelte die Allgemeine Zeitung, als im Jahr 1946 die Gründung des Kulturkreises beschlossen wurde. Nach einem Aufruf trugen sich in kürzester Zeit 900 interessierte Bürger in die Mitgliedslisten ein und so war es beschlossene Sache. Seit 75 Jahren organisiert der Kulturkreis Uelzen e.V. Konzerte, Theater, Kleinkunst und Sonderveranstaltungen. Immer am Puls der Zeit. So hörte das Publikum des festlichen Silvesterkonzerts am 30. Dezember 1946 Hölderlinverse, vielleicht das erste Mal frei jeglicher Vereinnahmung, wie sie die Nazis betrieben hatten, und Noten von Bach, Gluck und Beethoven. Ein halbes Jahr später stand „Der zerbrochene Krug“ auf dem Spielplan, die wohl deutscheste aller Komödien, im Jahr 1948 wurde der wunderbaren und engagierten Dichterin Ricarda Huch gedacht, die im November 1947 starb. Im Jahr 1959 gab`s „Kabale und Liebe“ – klar, es war Schillerjahr. Über solche Glanzpunkte muss heute offenbar nicht einmal mehr nachgedacht werden, weil eben nur zählt, was sich rechnet. Ich selber habe vor zwölf Jahren eine aufwühlende Aufführung der Schillerschen „Räuber“ gesehen – das war ganz großes Theater! Inzwischen hangeln sich die Vorstellungen meist durch Kammerspiele, weil die eben nicht so kostenintensiv sind. Außerdem wird doch ziemlich oft der Publikumsgeschmack bedient – wieder aus Kostengründen.
Das Spektrum der Veranstaltungen war früher eindeutig breiter und interessanter. Die fleißige ehrenamtliche Arbeit für eine Kultur als Gesinnung, als Rettungsinstanz (Imre Kertész) – findet die noch statt? An die Kraft von Kunst und Kultur glauben die Mitglieder des Kulturkreises und deren Vorstand ganz bestimmt noch heute. Deshalb machen sie weiter, kommen mit raren finanziellen Mitteln zurecht und manch andrer Widrigkeit. Zum Glück für die Einwohner dieser Stadt. Herzlichen Glückwunsch zum 75. all den Ehrenamtlichen, die sich aufreiben für diesen „zweiten Herzschlag“ des Lebens, ohne den wir alle längst tot – hirntot wären.
[Barbara Kaiser]