Seite lädt...

Aktuelles Feuilleton

Erkundungen

teilen

Drei Reportagebücher, die sich mit großem Gewinn lesen

„Daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält!“ Armer Faust – dieser Wunsch blieb schon vor 500 Jahren Vorsatz. Und der Gelehrte bei Goethe hatte es am Ende auch nicht begriffen, was vor seinem Profitstreben wichtiger sei. Und heute? Wir sind einer Flut ausgesetzt, einer Sintflut von Bildern und Nachrichten; Fakten, Fake-news, Hintergründen, Verschwörungstheorien. Wer nähme sich die Zeit, alles überprüfen zu können? Und Manipulation passiert raffiniert.

Es seien hier drei Bücher vorgestellt, dessen Autoren man Redlichkeit unterstellen darf. Man liest alle drei (obgleich eins schon ein paar Jahre alt ist) mit ungeheurem Gewinn. Da ist zunächst von Swetlana Alexijewitsch (*1948) „Seconhand-Zeit“. Der deutsche Untertitel „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ ist dumm. Im russischen Original heißt er Конец красного человека – konjetz krasnowo tschelowjeka, was so viel bedeutet wie „Das Ende des herrlichen, des guten Menschen“. Ein Hinweis darauf, dass ab jetzt der Mensch des Menschen Wolf ist, dass es keine Gemeinschaft mehr gibt, der Egoismus regiert. 2015 wurde der Autorin „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“ der Literaturnobelpreis verliehen. 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion hatte sich Alexijewitsch aufgemacht und die Menschen befragt, wie es ihnen ergangen sei in der neuen „Freiheit“, in der neuen Gesellschaftsordnung Kapitalismus. Herausgekommen ist ein erschütterndes Bild, gesehen „mit den Augen der Menschenforscherin“, wie sie es selber sagte. Sie sprach mit einfachen Leuten, die sich in ihrer Sowjetunion wohl gefühlt und mit ihrer Arbeit ihr Gedeihen gestützt hatten, sie redete mit ehemaligen Häftlingen, die für ein geringes Vergehen nach Denunziation im Straflager saßen, und sie unterhielt sich mit alten Stalinisten, die bei sich und ihrem Handeln keine Fehler ausmachten. Hier wird untersucht, wie es einem ergeht, wenn eine Welt wankt und am Ende zusammenstürzt, sodass nichts mehr gilt, was gestern noch stimmte. – Ich konnte das Buch nicht am Stück lesen, weil ich mich gefragt habe und es mich auch deprimiert hat, wie ein Volk zurechtkommt zwischen der Euphorie eines vermeintlichen Aufbruchs und der Enttäuschung, dass sich doch wieder nur Einzelne die Taschen vollstopfen und alle anderen ums Überleben kämpfen in einer Gegenwart der Ungewissheiten. Und dennoch ist da ein Stolz auf ein Land und das Leben darin, das einen heute übrigens auch besser begreiflich machen kann, was einen Wladimir Putin zum Aggressor machte.

Für das zweite Buch ist Landolf Scherzer (*1941) auf die Krim geflogen um zu erkunden, wie die Leute leben, nachdem die Halbinsel wieder zu Russland gehört. Die Reise datiert allerdings noch vor dem 24. Februar 2022. Scherzer ist ja auch so ein „Menschenforscher“. Ist er in allen seinen Büchern gewesen, ob er nach Griechenland, China oder Kuba reiste oder an der deutsch-deutschen Grenze entlangmarschiert war. Nun will er sich auf die Spur der Krimtataren begeben und ist in Nowaja Derewnja zu Gast bei Großmutter Gulnada, wie es ihm sein Freund Wassja vermittelte. Was wissen wir schon vom Vielvölkerstaat, den Lenin als Föderation gleichberechtigter Sowjetrepubliken angelegt sehen wollte. Das hintertrieb vor 100 Jahren hauptsächlich Stalin, der anstrebte, dass einer Russische Föderation alle anderen Staaten beitreten sollten. Hinter dem beruhigenden Slogan der gelösten nationalen Frage entwickelten sich dann jedoch nationalistische Bewegungen und neue Eliten, eine Melange, die sich in der Perestroika als Explosion entlud. Großmachtdenken und die patriotische Beschwörung der tausendjährigen russischen Staatlichkeit erklärt heute so manche Entwicklung!

Die Krimtataren jedoch trugen doppelt schweres Los: Im Jahr 1944, nachdem die Rote Armee die Deutschen dort vertrieben hatte, ordnete Stalin deren Deportation nach Sibirien und Mittelasien an. 200 000 Menschen wurden verbannt und zu „Umsiedlern auf Lebenszeit“ erklärt. Erst 1989 durften sie zurückkehren in die alte Heimat, wo ihr Besitz natürlich nicht brach gelegen hatte in 45 Jahren. Es ist ein Trauma, das bis heute wirkt und das die Menschen nicht redselig macht. So musste Landolf Scherzer vorsichtig, beharrlich und einfühlsam fragen. „Je mehr du weißt, umso mehr leidest du“, sagt ihm ein Bruder der großen tatarischen Familie Baraschew, bei der der Schriftsteller zu Gast sein darf. Und am Ende fragt sich der Autor, „welche der flüchtigen, unvollständigen, widersprüchlichen oder nur angedeuteten Information ich auswählen soll. Wie viel mehr müsste ich erfahren, um die Frage nach dem Leben auf der Krim beantworten zu können.“ Einer Halbinsel, die seit 1783 unter Katharina II. russisch gewesen war, die Chruschtschow in einem Anflug von Großzügigkeit im Jahr 1956 der Ukraine schenkte. Bleibt ja alles in der großen Sowjetfamilie, dachte der. Wie man heute sieht: Mit fatalen Folgen. Das neue Buch von Scherzer füllt große Wissenslücken und lässt erahnen, dass dem Konflikt noch lange kein Ende beschert sein wird. Die reichlich 300 Seiten Literatur reisen mit uns auf ein wunderbares Stückchen Erde, das keinen Frieden findet, weil es immer um Machtinteressen geht.

Zum dritten Buch fiel mir ein Podcast ein, in dem es um Kulturaneignung ging. Seit eine deutsche (weiße) Musikerin mit Rastalocken von den Klimaaktivisten „Fridays for Future“ wegen ihrer Frisur wieder ausgeladen und ihr der Auftritt nur in Aussicht gestellt wurde, nachdem sie beim Friseur war, erreichte das Wort ja eine neue Dimension. Im genannten Podcast ging es darum, ob denn einer mit westdeutscher Sozialisierung überhaupt das Recht habe, sich äußern zu dürfen über ostdeutsche Befindlichkeiten. Das ist allerdings nur fast so albern wie die Sache mit den Locken, weil die Frage einen Kern impliziert, der sehr wohl zu hinterfragen ist. Denn wie viele arrogante, abwertende und vorwurfsvolle Beschreibungen und Bewertungen gab es in den letzten 30 Jahren. Neuerdings spricht man den Ostdeutschen ja auch ab, die Demokratie nicht verstanden zu haben (weil sie sowieso offenbar ein bisschen blöd sind und die Segnungen der Marktwirtschaft nicht begreifen). Es ist also eine ganze Menge westdeutscher Kulturaneignung im Spiel, weil wir einander einfach nicht zuhören konnten. Wollten.

Moritz von Uslar ist anders. Der hatte schon im Jahr 2010 der brandenburgischen Kleinstadt Zehdenick einen Besuch abgestattet. Allerdings nicht als Tourist, nicht als Durchreisender. Er blieb ein Vierteljahr, suchte den Kontakt, ja, die Freundschaft, zu den Bewohnern. Nach zehn Jahren kommt er nun wieder. Seine Erfahrungen schrieb er in „Nochmal Deutschboden – Meine Rückkehr in die Brandenburgische Provinz“ auf. Er hat mehr Fragen als Antworten. Er geht vorurteilsfrei auf die Menschen zu, redet und säuft mit ihnen, hört sich die krudesten Überzeugungen an. Die er nicht verurteilt, sondern zu verstehen sucht. Er forscht nach Gründe dafür in der Geschichte der Familien, der Stadt, des Staates, der Erschütterungen der „Wende“. Er denkt auch über das Resümee eines Handwerksmeisters nach, das da lautet: „Moritz, wir hier im Osten haben beide Gesellschaftssysteme erlebt. Deshalb – nicht bös` sein – sind wir schlauer als die Wessis.“ Und der Reporter kommt zu dem Schluss: „Das war ein anderes Deutschland als das Land, das wir uns im Westen seit der Wiedervereinigung so gemütlich ausgemalt hatten.“ – Auch wenn der Ton des Textes nicht zu meinen bevorzugten gehört – man kann ja nicht nur Wohlfühlliteratur lesen –, es ist ein nachdenklich machendes Buch. Auch, weil ich selber nicht jede Entwicklung verstehen kann, die über die schon lange nicht mehr „neuen“ fünf Bundesländer kam.

Nach so viel Erkenntnisgewinn will ich hier noch ein paar Zeilen zu Heinz Strunks „Ein Sommer in Niendorf“ verfassen. Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, ein wirkliches Ekelpaket kennenlernen wollen, müssen Sie sich dieses Buch reinziehen. Ich habe es bis zum Schluss durchgehalten, weil ich auf eine Pointe hoffte nach all den Schilderungen, die bei mir nur Brechreiz und Unwillen hervorriefen. Ich dachte, vielleicht ist es Satire, Parodie, eine Posse oder Karikatur? Da mietet sich ein geschiedener Anwalt im beschaulichen Ostseebad ein mit dem Vorsatz, eine Familiengeschichte zu verfassen. Eine Abrechnung mit seiner Sippe. Ich kenne keinen Anwalt, der eine Gabe fürs Schreiben von Poesie hätte, manche verweigern sich gar neben den Gesetzestexten dem Lesen überhaupt. Und natürlich scheitert Strunks Held auch mit seinem Ansinnen. Dass er mehr und mehr aus seinem sorgenfreien, nie von Geldnöten geplagten Leben absteigt, indem er sich von seinem Vermieter zu nahezu täglichen Alkoholexzessen verführen lässt, dass er alle Menschen, die ihm begegnen, mit einer unglaublichen Arroganz und Herablassung bewertet, ist einfach nur widerlich. Das Grundrauschen des Textes ist das der billigen Nachmittagstalkshows der Privatsender. Dass es Rezensenten (seltsamerweise nur Männer!) gibt, die dieses Buch in die Nähe von Thomas Manns „Tod in Venedig“ rücken, ist einfach nur absurd. Jedenfalls ist auch das kitschige Ende dieses Romans nur lachhaft und unglaubwürdig wie die ganze Story. [Barbara Kaiser]

Vorheriger Artikel
Nächster Artikel