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Feuilleton

Chapeau!

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Aufführung von Beethovens IX. in der Klavierfassung von Liszt in St. Marien

Der Beifall: Nicht endend. Das Publikum: Euphorisiert. Was war passiert? Mit zwei Jahren Verspätung durfte der Pianist Hinrich Alpers endlich seinen Beethoven-Sinfonien-Zyklus mit der Aufführung der IX. beenden. Alpers` Projekte sind ja immer ein bisschen größer. Vor ein paar Jahren die komplette Aufführung der Klaviersonaten des klassischen Meisters (32 x Beethoven), jetzt die Sinfonien.

Die St. Marien Kirche war dafür außerordentlich gut besetzt. An der Seite des Instrumentalsolisten das Quartett Arminia Friebe mit wunderbar reinem, kraftvollem Sopran, Daniela Denschlag, eine standfeste Altistin, André Khamasmie mit seinem Tenor, der immer die Herzen schmelzen lässt, und Hanno Müller-Brachmann mit charismatischem Bass. Dazu ein Projektchor St.-Marien, Kantor Erik Matz zeichnete für die Gesamtleitung verantwortlich.

Die IX. also. Für unseren mehr oder weniger kleinen Kulturkreis steht die nun mal im Ranking ganz oben. Neben Goethes „Faust“. Man kann es nachträglich verstehen, warum Franz Liszt mit der Transkription zögerte. Denn was ein großes Sinfonieorchester mit all seinen Instrumentengruppen zu vertuschen weiß, macht ein einzelnes Instrument, das Klavier, offenbar: Man möchte sich nämlich der Meinung des einen oder anderen Musikwissenschaftlers, die, natürlich hinter vorgehaltener Hand, vertreten wird, anschließen: Die IX. Sinfonie ist nicht Beethovens Bestes. Hier klingen nicht der überzeugende Enthusiasmus und die erschütternde Trauer der VII., nicht die Lyrik und Ausgelassenheit der VI. (wo man in der Klavierfassung nicht einmal die Hörner vermisst!), auch nicht das tiefe Ringen der V., sich aus dem Dunkel ans Licht zu arbeiten. Dazu kommt, dass die IX. totgeschlagen wurde durch die unzähligen Interpretationen vor allem des Schlusschores bis hin zur Popgruppe.

Und so ertönen bei Beethoven (und Liszt) im ersten und zweiten Satz vor allem Brachialität. Oder ist es die Verzweiflung? Angesichts des Zustands der Welt und des Komponisten eigener Krankheit? Mit dem Gedanken dieser Sinfonie trug sich Beethoven lange, trotzdem lagen zehn Jahre zwischen VIII. und IX., obgleich die Vorgeschichte dafür ins Jahr 1812 zurückreicht. Erste musikalische Gedanken skizzierte die Partitur für eine Oper „Bacchus“ im Jahr 1817. Ein Jahr später erhielt die Sinfonie die Stichworte: „Im Adagio griechischer Mythos… im Allegro Feier des Bacchus.“ Die Oper wurde nicht komponiert. Aufschlussreich  ist auch diese Randbemerkung dazu: „Dissonanzen vielleicht in der ganzen Oper nicht aufgelöst und ganz anders, da sich in diesen wüsten Zeiten unsere verfeinerte Musik nicht denken läßt.“ Und weiter an einen Freund in Frankfurt schreibt Beethoven zur selben Zeit: „Was mich anbelangt, so ist geraume Zeit meine Gesundheit erschüttert, wozu auch unser Staatszustand nicht wenig beiträgt, wovon bisher noch keine Verbesserung zu erwarten, wohl sich aber täglich Verschlechterung desselben ereignet.“ Nach Prag gehen die Zeilen: „Leben Sie wohl. – Übrigens macht einen alles um uns nahe her ganz verstummen.“

Ist die IX. Sinfonie also doch eher ein Zeugnis der „wüsten Zeiten“? Und der begrabenen Hoffnungen, die nach dem Sieg über Napoleon sich eigentlich Raum schufen? Ist das „Verstummen“ die Klage über die europäische Friedhofsstille der Restauration? Und ist Schillers „Ode an die Freude“ – Schiller war immerhin Ehrenbürger der Französischen Republik -,  die im Jahr 1785 entstand und mit der Beethoven von Jugend an verbunden war, die Konfrontation von Wirklichkeit und Ideal. Bei Schiller sehr wohl, bei Beethoven aber vielleicht sogar die Kontestation (Infragestellung) des neuen reaktionären Zeitgeistes, mit dem sich sogar ein  Goethe und Hegel ausgesöhnt zu haben schienen. Denn: Beethoven war immer auch Rebell!

Sicherlich knüpft Beethoven mit der IX. bei sich selbst an. Den mühsamen Weg von Bedrängnis zur Befreiung ist er in der V. schon einmal gegangen. Inzwischen jedoch ist der Weg beschwerlicher geworden, die zwei großen politischen Enttäuschungen in seinem Leben, Napoleon und die Situation nach dem Wiener Kongress, haben das musikalische Schaffen nicht leichter gemacht. So handelt der erste Satz der Sinfonie sicherlich von dem verzweiflungsvollen Zustand der Welt, die der Komponist beklagt. Auch der zweite Satz, (für die Oper als) eine wüste Feier des Bacchus (konzipiert), gewährt keinen Lichtblick der Freude. Ein faunisches Fugato, ein orgiastischer Tuttitaumel, dionysischer Exzess. Der dritte Satz: Der Traum eines Endzustandes. „Der Inbegriff eines völlig aufgelösten Kampfes“, sagte Schiller , „sowohl im einzelnen Menschen als in der Gesellschaft, einer zur höchsten sittlichen Würde hinaufgeläuterten Natur.“ Hier erscheint der klassische Mythos des Elysiums, dessen Tochter die Freude ist. In Satz vier bleiben die Freudenmelodie und D-Dur die dominierende Haupttonart, im Kontrast zu d-moll, dem „verzweiflungsvollen Zustand“. Ein atemloses Prestissimo schleudert der ganzen Welt ihren Kuss entgegen. In der Konzertfassung halten übrigens Triangel, Becken und große Trommel Einzug in den Konzertsaal, was dem feinen Publikum zu allen Zeiten zu plebejisch war.

Muss man diese Geschichte nun mitdenken beim Hören der wohl bekanntesten Sinfonie? Sicherlich nicht immer. Schaden kann es jedoch nicht, einen Gedanken auch darauf zu verwenden, wenn sich alle Welt mit dieser Musik wieder einmal im dummen Freudentaumel selbst beweihräuchert und selber feiert. Man darf Beethovens Ringen einfach nicht so verkommen lassen.

Was haben die Akteure nun aus all dem gemacht? Wie anfangs beschrieben, war der Applaus am Ende überzeugend lang. Hinrich Alpers steht als Interpret immer für eine tadellose Ausleuchtung und einen sensiblen Umgang mit der Partitur. Liszt habe sich für diese IX. „ein paar clevere Ideen und auch Schwierigkeiten ausgedacht“, sagte er in der kurzen Einführung. Eine Schwierigkeit besteht schon darin, dass man auf 88 Tasten und mit nur zehn Fingern ein ganzes Orchester, von der Piccoloflöte bis zur Pauke, imaginieren muss, obgleich Franz Liszt eine eigenständige Klaviermusik schaffen wollte und keine Eins-zu-eins-Übersetzung der Beethovenschen Noten.

Es war also ein großes, buntes, aufregendes Spektakel, ganz großes Kino, das in St. Marien aufgeführt wurde. Wirklich wunderbare Gesangssolisten standen dem Chor zur Seite, der in den meisten Passagen sehr zu überzeugen wusste. Auch das hohe A ohne Tadel! Und die Doppelfuge mit dem superlangen Ton auf „Weeeeelt“ – Chapeau! Dass gegen Ende ein wenig der Schalldruck fehlte, sei verziehen.

Hinrich Alpers leistete Schwerstarbeit. Die atemberaubende Fuge in Satz vier mit – ja, wirklich – nur zwei Händen! Im Elysium des dritten Satzes durfte er seinen geschätzten sensiblen Anschlag und seine große Empathie variieren. Dieser Satz glitzert übrigens in impressionistischer Manier, was wieder einmal ein Licht wirft auf die Zeitlosigkeit des Komponisten Beethoven, respektive Liszt. Auch in der Wüstenei der Sätze eins und zwei verlor er die Übersicht nie, das beständige Forte musste aber für ihn, der eher ein Mann der leiseren Töne ist, eine Herausforderung gewesen sein.

Nach 80 Minuten höchster Konzentration und musikalischer Höchstleistung gab es zufriedene und erschöpfte Gesichter. Ein Beethoven – mal ganz anders. Eine fruchtbare Kooperation zur Freude aller Zuhörer und Beteiligten, die sich als wahrhaft engagierte Dienstleister des Komponisten  erwiesen.

Barbara Kaiser – 22. Mai 2022