Seite lädt...

Allgemein Feuilleton

750 Jahre Geschichte und Geschichten

teilen

Ulrike Bals präsentiert ihre künstlerische Sicht auf die Stadt Uelzen

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ So beginnt Thomas Mann die Erzählung über „Joseph und seine Brüder“, die sich schlussendlich zur Tetralogie auswuchs (1933/43) und das umfangreichste Werk des Literaturnobelpreisträgers wurde. – Ist die Vergangenheit wirklich unergründlich? Das machte den Beruf aller Historiker überflüssig! Weil man aber seine Geschichte kennen muss, weil es ohne das „Woher“ keine Antwort auf ein „Wohin“ gibt, forschen jene emsig und geben sich nicht damit zufrieden, wie es Napoleon kurz und knapp auf eine Formel brachte: Geschichte sei die Lüge auf die man (die Sieger) sich am Ende einige.

Geschichte beginnt im engsten Umfeld des Lokalen und zieht ihre Kreise – wie ein Stein, den man ins Wasser wirft. Manchmal scheint sie der Chaostheorie zu folgen, am Ende aber geht es, bei genauerem Hinsehen, immer um handfeste Interessen.

Die Stadt Uelzen hatte in diesem Jahr ihren 750. Geburtstag zu feiern. Dass keiner hingehen konnte, alle so schön konzipierten Veranstaltungen ausfallen mussten, ist bitter. Keine Pandemie der Welt jedoch hätte einen daran hindern können, sich mit der Geschichte der Stadt zu beschäftigen.

Ulrike Bals

Die Künstlerin Ulrike Bals hat den Uelzenern diese Arbeit abgenommen und präsentiert jetzt (zum Verkauf) ihr Buch „Uelzen – Illustrierte Stadtgeschichte/n“. Und weil Ulrike Bals nicht nur ihre Kunst ausübt, die Design-Agentur „con-text Ideenlabor“ betreibt, sondern genauso studierte Architektin und ausgebildete Journalistin ist, hat sie zu den 29 großen Grafiken auch die Texte selbst geschrieben. Drei Jahre hat sie dafür recherchiert und gearbeitet. Das Ergebnis ist ein edler Band mit genannten 29 Großformaten und kleineren Bildern, den Text zusätzlich illustrierend. Auf jeden Fall aber, und das ist ihr Credo, will Bals Geschichte in Geschichten erzählen.

„Die besten Geschichten sind die wahren Geschichten“, zeigt sie sich überzeugt. Und deshalb ist Bernhard Nigebuhr ihr Superman! Dieser Bürgermeister (oder wie immer er damals genannt wurde) machte sich mit seiner Kommune vor mehr als 750 Jahren auf ins Unbekannte, um die Knechtschaft und Bevormundung des Bischofs von Verden abzuschütteln. Der muss es mit seinen Forderungen übertrieben haben, dass ein ganzer Ort übers „Auswandern“ nachdachte und es schließlich auch anging. Dass die Uelzener Vorfahren es mit den späteren neuen Herrn, den Welfen, nicht viel besser treffen würden, wussten sie da noch nicht; das beweist aber 120 Jahre später die Impertinenz derselben, sich für mehr als ein Jahr in der Stadt einzunisten und in Saus und Braus auf Kosten ihrer Bürger zu leben. Bis die sich am Ende selber freikaufen, damit sie die lästigen Schmarotzer loswerden. Die Freudenfeier ging als das „Uelzisch Armenessen“ in die Geschichte ein.

Superman Bernhard Nigebuhr (Ausschnitt).

Am Anfang jedoch stand Bernhard Nigebuhr, der bei Ulrike Bals ein Superman-Kostüm trägt und von dessen Mut und Zukunftszuversicht sich heutige Politiker eine Scheibe abschneiden könnten anstatt nur stets das Wort „alternativlos“ zu konjugieren.

„Die Gründungslegende hat mich fasziniert“, bekennt die Künstlerin. Das ist zu verstehen. Versuchen doch heute immer wieder Einzelne das Auswandern, ganze Ortschaften aber wohl nicht mehr. Jedenfalls nicht in unserem friedlichen Mitteleuropa.

Die Technik der Bilder der 53-Jährigen ist eine besondere. Sie verbindet die Tradition der mittelalterlichen Tafelbilder und die der ersten Buchkunst mit dem herkömmlichen Holzschnitt und der seit einigen Jahren boomenden Graphic Novel, die man früher Comic nannte. Eine Graphic Novel mit wenigen Sätzen pro Bild – inzwischen werden ganze Romane in diese Sprache übersetzt – bedient vielleicht auch die Leseunlust der jüngeren Generation besser. Trotzdem aber ist sie in dieser kongenialen Verbindung ein Mittel, Nachrichten zu transportieren.

1945 (Ausschnitt).

Ich gebe zu, ich war ein wenig indigniert als ich hörte, dass „Das Tagebuch der Anne Frank“ als Graphic Novel erschienen ist. Aber vielleicht greifen junge Menschen dann auch zum Prosatext?

Ulrike Bals „malt“ am Computer und arbeitet mit Licht und Schatten. Die sehenswerten Arbeiten sind monochrom und flächig, eine magische Tiefe ist ihnen aber dennoch immanent. Sie wolle die Anmutung von Holzschnitt, sagt Bals.

Als mein Lieblingsbild hat sich bald der Heilige Gertrud herausgestellt. Mit einem Gesicht wie ein Engel dominiert eine junge Frau dieses Bild in Grün. Die Schutzpatronin der Reisenden, Pilger, Armen und Gärtner – auch der Katzen! – trägt eine Maus auf der Schulter, damit die sich nicht zur Plage auswachsen, wofür sie zusätzlich Sorge zu tragen hat. Sie riecht mit überwältigender Anmut in der Bewegung an einer Blume. Im Hintergrund ein Ochsengespann und die Silhouette der Gertrudenkapelle an der Gudesstraße, die im Jahr 1511 vom Bürger Hans Holtsche mit dem Erbe seiner Ehefrau gestiftet wurde.

Muss man sich in der Gegenwart ein eigenes Bild machen, wo doch so viele Bilder gesendet werden? Wo Zeit viel zu oft nur in geballte, gelangweilte Kaufkraft fürs Spaßhaben investiert wird? In dieser manchmal kopflos voranstürzenden Epoche kann Langsamkeit nicht falsch sein. Nachdenklichkeit und die Erforschung eigener Wurzeln. „Es ging mir um die Menschen“, erklärt Ulrike Bals zu ihren Grafiken. Dass sie mit Buch und temporärem Laden auch gleich noch einen wesentlichen Beitrag dafür leistet, dass Kunst in die Stadt kommt, ist kaum hoch genug wertzuschätzen.

November 1989 (Ausschnitt).

Der von ihr gegründete Verlag „Kunstfunken“, in dem das Buch erschien und im vertrieben wird, hat die große Vision vom Verbinden: Die Bürger mit ihrer Stadt und deren Geschichte in diesem Fall.

Und so erzählen die 123 Seiten von den Anfängen Loewenwoldes oder auch Ullessens, der Name, der sich durchsetzen wird. Über St. Marien und die schweren Jahre der Pest, die Hansezeit und Ernst, den Bekenner. Die Uhlenköper-Sage und Friedrich Kuhlau, den bunten Bahnhof und die Zeit, als hunderte Trabis die Stadt blockierten. Sie sprechen von weitsichtigen Unternehmerinnen, der Zeit der Industrialisierung, den Zuckerrüben, der Friedensbewegung und dem Kunstleben vor Ort. Ein Schelm, der Schlechtes dabei denkt, dass ausgerechnet Reinhard Schamuhn den Buchleser auf der ersten Innenseite anlächelt! Noch vor dem Zusammenschnitt einer Doppelseite von Nachtwächter, dem Mahnmal gegen Krieg und Gewalt von Clas Tilly, dem Weihnachtsengel am Uelzener Adventskalender, der Malerin Ruth Schaumann und Lucas Backmeister, dem Propst. Weiter hinten steht die Künstlerin selbst mit ihrem Kollegen Georg Lipinsky, dem ein ausdrücklicher Dank gilt nach drei Jahren Recherchearbeit.

Es ist ein wunderbares Werk geworden, dieses Buch, das weit über das Jubiläumsjahr hinausstrahlen wird und das man immer wieder zur Hand nehmen kann. Weil es eine Entdeckungsreise ist und Fakten listet. Und trotzdem steht im Mittelpunkt immer der Mensch. Denn der ist es am Ende, der Geschichte „macht“. Deshalb fragte schon Bertolt Brecht: „Wer baute das siebentorige Theben?“ Dafür muss man in die Tiefe tauchen – unergründlich aber bleibt Geschichte nie.

Der Kunstfunken-Laden an der Lüneburger Straße 37 (neben Blumen aus Holland) ist noch bis zum 31. Dezember 2020 geöffnet, dienstags, mittwochs, freitags und samstags von 10 bis 18 Uhr.

Barbara Kaiser – 06. Dezember 2020