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Zwischen Psychose und Realität

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„Bühne Cipolla“ eröffnete Theatersaison mit Fjodor Dostojewski

So manche Wahrheit und ein wenig menschliche Wärme kamen am Ende ausgerechnet aus dem Munde einer Hure. Die beiden Figuren lehnen sich aneinander im stillen Einvernehmen, dass der leise fallende Schnee schön sei. Oder ist er das Leichentuch, das sich über diese marode Welt legt? „Kein Mensch. Kein Laut.“ Das Cello seufzt dazu. Ende. Auch ein Happy End? Wohl eher nicht.

Gast für die Eröffnung der Theatersaison war die Bühne Cipolla, für die Sebastian Kautz dieses Mal Fjodor Michailowitsch Dostojewskis  „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ adaptierte. Vor vier Jahren hatte diese Truppe Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“ beindruckend und hinreißend – weil so neu – auf die Bretter gebracht. Das Markenzeichen von „Cipolla“ sind die großen  Puppenfiguren, die eine Theatererfahrung der anderen Art möglich machten. Gero John stellte auch damals an Cello und E-Piano die musikalische Unterstützung.

Gero John am Cello

Wenn ein Theater wie der Zauberer einer Thomas-Mann-Novelle heißt, darf man gespannt sein auch auf ein Psychogramm. Was macht man aus dieser Erzählung der russischen Nationalliteratur, die Friedrich Nietzsche einen Geniestreich nannte und die beweist, dass die wahren Abenteuer im Kopf stattfinden. Da sitzt einer in einem Kellerloch, verwahrlost langsam, wählte diesen Status aber bewusst, weil er sich abwenden wollte von der Verlogenheit der Gesellschaft. Dort war er ohnehin der Außenseiter gewesen; ohne Selbstbewusstsein, ohne Schneid, das Leben zu bewerkstelligen. Nicht dumm zwar, im Gegenteil, sich klüger dünkend als alle anderen, aber nicht bereit, mitzutun in einer Weltordnung, die den Einzelnen entmündigt. Oder wo „Blut wie Champagner fließt“, weil „der Mensch dumm ist, phänomenal dumm“. Und weil es viel zu viele gibt, die „allein nach unserem unvernünftigen Willen leben“ wollen. Aber sich die Autarkie gegenüber dem Lauf der Welt einzureden bleibt Illusion.

Es war hilfreich, vorher noch einmal in den Text geschaut zu haben, der ja wirklich keine leichte Lektüre ist. So saß man nicht gar so verloren zwischen den Aktionen von Musik, Puppen und Mensch. Denn der Abend war eher die Stunde der Gedankensplitter, hingeworfen, mehr oder weniger diskutiert, ausgeformt. Die 75 Minuten hatten ein paar übereifrige Einfälle zu viel, unbedenklich wechselnd zwischen den Situationen des namenlosen Erzählers, die meist voller Tragik für ihn sind. Ob der Deutungsehrgeiz überzogen genannt werden kann – vielleicht. Nicht immer erschloss sich dramaturgisch, warum jetzt der kostümierte Darsteller und später die Puppe redeten.

In unfreiwilliger Albernheit verfranste sich die Aufführung jedoch nicht. Sie nahm auch keine Anleihen beim Hanswursttheater, was bei einem Puppenspiel nahe läge. Die Inszenierung war insgesamt eine faszinierende Leistung der beiden Akteure.

Das Spiel musste auch nicht (vordergründig) aktualisieren, dazu ist der Text aus dem Jahr 1864 noch viel zu aufregend und brennend. Sebastian Kautz erzählt über einen, der nicht dem nützlichen (kapitalistischen) „Mainstream“ entspricht. „Habt ein Auge auf die Menschen im Abseits!“, rät der russische Dichter, dessen 200. Geburtstag im vergangenen Jahr zu feiern war. Weil: „Das Beste keineswegs das Kellerloch ist, sondern etwas anderes – wonach ich mich sehne.“

Ein wenig ratlos und hin und wieder auch verständnislos saß man manchmal zwischen Freud, experimentellem Theater und der Philosophie und Psychologie eines Dostojewski. Aber diese kurze Zeit konnte man das aushalten. Vielleicht klingt das Ganze ja nach oder ist ein Grund, zum Originaltext zu greifen?

Barbara Kaiser – 07. November 2022