„Europäische Tänze aus fünf Jahrhunderten“ lautete der Titel, mit dem die junge Organistin Merle Hillmer antrat, das 5. St.-Marien-Sommerkonzert zu bestreiten. Und diese Zeitspanne war es am Ende auch, zwischen dem Geburtstag des ältesten und dem Sterbetag des jüngsten Komponisten – 1562 und 1940 -, die die Solistin durchschritt. Sie begann in der Renaissance und endete im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges. Dann war der Tanz eher ein Totentanz.
Mit Jan Pieterszoon Sweelinck (1562 bis 1621) und seinem „Ballo del Granduca“ eröffnete ein Schreittanz das Programm. Wie es der Titel verheißt: Der Ball des Großherzogs. Falls sie im England des 16. Jahrhunderts schon Musikimport aus den Niederlanden betrieben, sähen wir zu diesen Takten Shakespeare tändeln und Königin Elisabeth I. ihrem Lover Blicke zuwerfen. Wer weiß es. Merle Hillmer schuf für diese Hofgesellschaft eine lockere, musikalische Atmosphäre, in der gegessen, geschwatzt, geflirtet und eben auch getanzt wurde. Per Distanz selbstverständlich.
Johann Sebastian Bachs (1685 bis 1750) Toccata, Adagio und Fuge C-Dur (BWV 564) hat mit diesen Tänzen nichts zu tun. Es war aber ein Erlebnis, sie nach dem Benefizkonzert am Donnerstag wiederzuhören: Fröhlich in der Grundstimmung, das Adagio bedenkend und ach, die Fuge! Ein Drängen und Jubeln. Merle Hillmer spielte mit Genauigkeit, aber ohne Pedanterie. In einem Tempo, das weder jagte noch schleppte, sondern sich Zeit für Ausformung nahm.
Danach Bernardo Storace (1637 bis 1707) und „Balletto“. Eine zierliche Angelegenheit. Der Spitzentanz brauchte allerdings noch einmal mehr als 100 Jahre, ehe er erfunden wurde. Zu diesen Noten war er aber vorstellbar. Dann die Erfahrung, dass Bach eine Gigue als Fuge zu setzen versteht (BWV 577),was nicht überrascht. Der Meister tauchte diesen fröhlichen Tanz im Dreiertakt so in ein ganz anderes Hörlicht.
Dann wurde es düsterer. Max Reger (1873 bis 1916) wusste eben auch schon viel vom Krieg. Es erklang seine Passacaglia in e-moll aus der Suite op. 16. Diese Art steht ja sowieso meist in Moll und hat einen melancholischen Grundsound. Bei Reger werden die (barocken) Noten romantisch aufgeladen und durchschreiten das düstere Piano, das sich lichtet und schwillt, das im Forte enden will, aber wieder herabsinkt, die Tempi und die Lautstärken ständig wechselnd. Die Organistin schuf ein durchsichtiges Klangbild der vertrackten harmonischen Gebilde polyphoner Musik.
Danach Jehan Alain (1911 bis 1940) und
„Drei Tänze“. Alains kompositorisches Schaffen wurde nicht nur
durch die musikalische Sprache von Claude Debussy und Olivier
Messiaen beeinflusst, sondern genauso durch fernöstliche Musik, Tanz
und Philosophie, das neu erwachte Interesse an der Musik des 16. bis
18. Jahrhunderts und den Jazz. 140 Kompositionen stammen aus seiner
Feder, ehe er, 29-jährig, im Krieg starb.
Merle Hillmer sagte im Gespräch, sie
wollte diese Tänze schon immer einmal spielen und hat sich das
restliche Programm drum herum gebaut. Wie gesagt: Es sind eher
Totentänze, denn sie tragen die Titel „Joies“ (Freuden),
„Deuils“ (Trauerfälle) und „Luttes“ (Kämpfe).
Synkopen geben einen unruhigen Rhythmus
vor. Ein chromatisches Auf und Ab imaginiert Sirenen. Es ist eine
beängstigende und bedrängende Musik. Optimismus? Nirgends!
Die 23-Jährige beherrschte die Noten
souverän und bewies ein großes und beachtliches Gestaltungsvermögen
ihrer Partituren. Die Zuhörer konnten dieses 5. Sommerkonzert sehr
angeregt verlassen.
In einer Woche, am 07. August 2021,
gibt es ein ungewöhnliches Duo. Mit „Conexus“ erklingen Violine
und Akkordeon – Bach und Jazz. 16.45 Uhr, St. Marien.