Seite lädt...

Feuilleton

Sich stellen

teilen

Abiturienten des Lessing-Gymnasiums bewältigten ein besonderes Kunstprojekt

Auf diesen Termin war ich neugierig, seit der Kontakt zustande gekommen war: Über ein Projekt soll berichtet, es einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt werden, dem sich Schülerinnen und Schüler des 13. Jahrgangs des Lessing-Gymnasiums im letzten halben Jahr widmeten. „Lebe deine Dystopie“ lautete die Aufforderung.

Um es vorweg zu nehmen, ich wollte meine Dystopie nicht leben, weil es darüber Literatur stapelweise gibt: Deren Titel lauten „Schöne neue Welt“, „1984“, „Report einer Magd“ oder „Unterwerfung“. Geht es um Filme, machte „Metropolis“ von Fritz Lang aus dem Jahr 1927 den Anfang und der letzte Wilsberg-Film aus dem ZDF-Programm, in dem in Münster ein Social-Credit-System installiert wurde, wie es in China schon üblich ist, wird nicht das Ende darstellen.

Immer geht es um ein negatives Zerrbild der Menschheit, oft in einem totalitären System. Dystopie ist die Anti-Utopie schlechthin; diese fiktionalen Zukunftsbilder erzählen über die Versklavung des Menschen und die Beschneidung aller Freiheiten; Fortschrittsglaube? Fehlanzeige. Was davon, bitte, kann man selber leben? Will man das? Gut, ein Kunstprojekt ist keine Realität, aber ernst nehmen darf man es schon.

Die LeG-Abiturienten haben die Aufforderung ernst genommen, orientierten sich aber an der Bildenden Kunst, weniger an Literatur oder Film. Bei ihrer Beschäftigung hörten sie über Marina Abramovič (*1946 in Belgrad) und Sophie Calle (*1953 in Paris), zwei Künstlerinnen, die durch Performances auffielen, mit denen sie Grenzbereiche des Persönlichen und Privaten austesteten.

Und um persönliche Grenzbereiche sollte es auch in diesem LeG-Projekt gehen, das die Lehrerin Andreja Dominko anstieß und verantwortete. „Es waren auch Stunden, in denen es sehr ernst zuging“, resümieren meine beiden Interviewpartnerinnen Linn Lucas und Liv Brauer. Und mit dieser Coronazeit zusätzlich im Rücken, war Lachen vielleicht manchmal extra schwer. Was also ist herausgekommen?

Die SchülerInnen haben während ihres Selbstversuchs protokolliert und am Ende ein Fazit gezogen. Und obwohl nicht alle Arbeiten genauer in Augenschein genommen werden konnten, gibt es doch erstaunliche Ergebnisse:

Da resümiert eine 18-Jährige, die eine Woche lang auf alle sozialen Medien verzichtet hatte, was ihr dystopisch genug vorgekommen sein muss, also ganz schrecklich, nicht aushaltbar, – oder um die griechische Herleitung des Wortes Dystopie zu bemühen: ein übler Ort. „diss“ = miss, un-, übel-, tópos = Ort – am Ende, es sei auch befreiend gewesen. Und ihre Meinung war zumindest zwiegespalten. Das macht aufhorchen, kann man sich als Älterer doch junge Leute überhaupt nicht ohne ihr Mobiltelefon vorstellen.

Ein junger Mann hatte sich eine Woche in Inklusion begeben: Das Zimmer ausgeräumt bis auf das Nötigste, also kein Computer. Nur spartanische Mahlzeiten, ein Foto gibt Auskunft über Haferflocken und Wasser. Alles, was Spaß macht, verbannt. Keine Musik, kein Buch.

Aber was zeigt beispielsweise sein Fazit: Einen wunderschönen Regenbogen über gewittergrauem Himmel. Hätte er den bemerkt, abgelenkt von Handy, Streaming-Serie oder wummernden Bässen im Kopfhörer?

Ein Mädchen tauschte mit ihrer Freundin die Kleidung. Sie, die eigentlich Schwarz oder zumindest Dunkel bevorzugte, wickelt sich nun in Knallbuntes. Das kostet Überwindung!

Genau wie sich Linn Lucas vorgenommen hatte, selbstbewusster zu sein, eine lautere Stimme zu haben. Sie sang jeden Tag einen Song und stellte ihn ins Netz – wenn das kein Selbstbewusstsein gibt!

Auch Liv Brauer hat sich Gedanken gemacht, was für sie eigentlich unvorstellbar wäre. Ihre Eltern waren der Meinung, es sei nicht schlecht, mal aus der Komfortzone rauszukommen. Und so hat sie sich jeden Tag eiskalt geduscht und das mit Fotos dokumentiert. Gut, über das Wort „eiskalt“ kann man jetzt diskutieren, wenn Wasser aus der Leitung fließt, hat es gewöhnlich zwölf Grad, aber für einen Warmduscher, als der sich Liv bekennt, ist das auf jeden Fall auch Überwindung. Die Fotos dazu sind übrigens umwerfend!

Sie haben sich also alle ihrem ganz persönlichen Schrecken gestellt. Das braucht Mut, das bringt Selbstbewusstsein und so manch neue Erfahrung. Das, so möchte man meinen, bedient auch Shakespeare, der seinen Hamlet „mehr Inhalt und weniger Kunst“ fordern ließ. Obgleich alle „Tagebücher“ des Fazits der Probanden auch künstlerisch ansehbar sind. Und sie beweisen auch, dass das Gesellschaftspolitische in den Diskussionen und Überlegungen nicht ausgeschlossen wurde. Weil ja jeder Einzelne Teil dieser Gesellschaft ist.

Wer von fremden Menschen persönliche Geschichten nimmt, muss Sympathie und Zuwendung zurückgeben! Ich durfte mir die persönlichen Herausforderungen der Mitglieder dieses Kunstkurses ansehen und mir sehr Persönliches erzählen lassen. Das war beeindruckend, weshalb auch dieser Artikel entstand, der hoffentlich von den Grenzüberschreitungen erzählt, den die Jugendlichen sich selber aussetzten. Unerschrocken, mutig, verrückt auch, selbstbewusst. – Einen Eindruck von den Arbeiten kann jeder auf der Homepage des Lessing-Gymnasiums erhalten.

Barbara Kaiser – 26. Februar 2021

Tags: