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Feuilleton

Gegen die Depression

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Neujahrskonzert der Göttinger im Stream

So nahe kommen Sie den Musikern und vor allem dem quirligen Generalmusikdirektor Nicholas Milton nie wieder, liebe Leserinnen und Leser! Schalten Sie also Ihren Computer ein, stülpen Sie sich die Kopfhörer über und lauschen Sie auf www.youtube.com/gsoonline dem Silvester-Neujahrs-Konzert der Göttinger Symphoniker!

Der digitale, eigentlich monatliche Kulturbrief des Kulturkreises Uelzen flatterte rechtzeitig ins Haus, um auf diesen Link aufmerksam zu werden. Ich kann sagen, dass mir die 50 Minuten Musik auch über den PC – was jedoch keinesfalls ein Ersatz ist und zur Gewohnheit werden soll – an einem trüben Januarvormittag gute Laune machte. Probieren Sie es aus.

Als die Politik im November erneut das künstlerische Leben erwürgte, indem sie die Schließung aller „Freizeiteinrichtungen“ verkündete, gebar das einen Aufschrei, der hoffentlich noch lange hallt und Konsequenzen haben wird. Der Berliner Bürgermeister antwortete gar auf eine entsprechende Frage: Theaterbesuche seien derzeit nicht sein Thema.

Man darf angesichts solcher Beschlüsse und Äußerungen zu der Erkenntnis kommen, dass das „Thema“ der Politiker die Kunst und Kultur grundsätzlich nicht sei. Und wenn die Kanzlerin nahezu zynisch die Musiker, Schauspieler, Galeristen und alle anderen Kulturveranstalter in einen Topf mit Spaßbädern wirft, verstummt man peinlich berührt. Vielleicht ist ihr der alljährliche Besuch der Bayreuther Festspiele nur die bunte Schleife am Kanzlerinnenblazer? Und in diesem Jahr gab es sowieso genug anderes zu tun – da war die Zeit fürs Theater entbehrlich.

Die Freizeit-Vokabel der Politiker hat einen ganzen Berufsstand tief gekränkt und beleidigt, zumal man in Theatern, Konzertsälen, Museen und Kinos Hygienekonzepte entwarf, die funktionierten. Ich weiß keinen einzigen Fall von Corona nach Erik Matz‘ Sommerkonzerten in St. Marien, nach Hinrich Alpers` Sommerakademie oder Thomas Matschoß‘  Openair-Premiere in Bostelwiebeck!

Wahrscheinlich wird es höchste Zeit, dass eine generelle Diskussion über die Notwendigkeit von Kunst und Kultur geführt wird. Alles andere wäre ein Armutszeugnis für die „Nation der Dichter und Denker“, für ein Deutschland, das sich so gerne als „Kulturnation“ geriert. Der Intendant des Schauspiels Stuttgart verlangte in diesem Zusammenhang, die Kulturförderung endlich „als staatliche Pflicht im Grundgesetz“ zu verankern.

Derweil vermeldeten die Nachrichten die dritte Hilfszahlung für TUI. Die dritte! Der Volkswagenkonzern in Emden schickt seine Arbeiter in Kurzarbeit – das auf Kosten des Steuerzahlers wohlgemerkt! Während die Kultur darbt, viele, viele Soloselbständige nicht weiter wissen.

Es ist auch für uns ein Lichtblick, dass sie trotzdem weiter kämpfen. Aber wie lange noch?

Deshalb kann dem Göttinger Symphonieorchester nicht genug gedankt werden für dieses Stream-Konzert. Für „Frühlingsstimmen“ im Walzer, für die Polka „Ohne Sorgen“ (schön wär’s), für ein Repertoire durch alle Wiener „Sträuße“, einschließlich des unvermeidlichen „Radetzkymarschs“.

Weil Walzer und Polka für einen Augenblick die Depression vertreiben. Ängste auch. Die quälenden Fragen, wie es weitergehen wird. Wer die Rechnung am Ende präsentiert bekommt. Denn sogar gegen eine einmalige Millionärsabgabe hat sich die CDU schon mal positioniert! Dabei hülfe ein Blick ins Grundgesetz, sie einfach zu beschließen in dieser Ausnahmesituation. Prosit Neujahr!

Barbara Kaiser – 15. Januar 2021

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