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Reisen ins Ich

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Kunstprojekt des Lessing-Gymnasiums sucht Mut trotz Alleinseins

„Um zu begreifen, daß der Himmel überall blau ist, braucht man nicht um die Welt zu reisen“, war sich Johann Wolfgang Goethe sicher. Er hätte also nicht bis Italien kutschieren müssen! Ist er aber. Hat Urlaub genommen bei seinem Weimarer Herzog, sich das Gehalt nachschicken lassen und sich ergötzt, studiert, sich gebildet, amüsiert auch. Zwar muss man immer öfter zweifeln, dass die Menschen zwecks eigener Bildung um die Welt reisen – aber das liegt im Auge des Betrachters.

Als der französische Autor Xavier de Maistre (1763 bis 1852) wegen eines verbotenen Duells zu 42 Tagen Arrest verurteilt wurde, verkürzte er sich die Zeit mit der Niederschrift seines ersten Romans „Reise um mein Zimmer“ (1794). „Voyage autour de ma chambre“ ist eine Parodie auf geografische Reiseberichte, den Trend der großen Welt- und Entdeckungsreisen jener Epoche; man denke beispielsweise an Humboldt, obwohl der seine amerikanische Forschungsreise erst im Jahr 1799 begann. Es ist der literarische Typus der Miniaturreise als Gedankenspaziergang. Die Gegenstände in seinem Arrestzimmer werden beschrieben, erkundet und entwickeln sich zu Objekten der Fantasie. Dialoge zwischen Körper und Seele, bei denen divergierende Anschauungen diskutiert werden, kommen dazu. Die Niederschrift kann auch als Reaktion auf die Begrenzungen, Trivialitäten und Zumutungen des Alltags gedeutet werden.

Und damit sind wir mitten in der Gegenwart der vergangenen zwei Jahre: Ein jahrgangsübergreifendes Kunstprojekt des Lessing-Gymnasiums Uelzen hat die Idee des französischen Schriftstellers zum Ausgangspunkt eigener künstlerischer Positionen gemacht. Rund 300 Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge sieben bis zwölf haben sich, begleitet durch ihre Lehrerin Andreja  Dominko, während des Lockdowns auf einen fantastischen Gedankenspaziergang begeben, um ihren dabei imaginierten Geschichten in selbst illustrierten und gestalteten Büchern eine Gestalt zu geben. Eine Auswahl dieser Ergebnisse ist jetzt in der Stadtbücherei ausgestellt und laden zum Blättern ein.

Die Büchlein sind so unterschiedlich wie ihre Verfasser. Und auf jeden Fall sollte man sich bei Interesse für diese „Gedankenreisen“ der jungen Leute viel Zeit nehmen. Vielleicht haben alle Arbeiten eine Gemeinsamkeit: Die Sehnsucht nach Gespräch und Austausch, die Erinnerung an helle, gemeinsame Tage, eine gewisse Zuversicht und Hoffnung. Auffällig ist, dass es meist heile Welten sind, durch die die Schüler reisen, auch wenn manchmal die Warnung davor, das alles aufs Spiel zu setzen, nicht überhört werden kann. (Ein Gruß von Fridays for Future!)

Da schlüpft Janna Dornfeldt zum Beispiel in den Körper ihrer Katze und bekommt von der Samtpfote mehr Sensibilität geschenkt für ihre Unternehmung. Lilli Schlademann erträumt sich eine Glaskuppelwelt „mit Fremden, denen  man (trotzdem) alles erzählt“. Sophia Busse fliegt mit ihrem Bett (der kleine Häwelmann von Theodor Storm war wohl hier ein Vorbild) durch Himmel und Hölle, und  Delia Walz erlebt ein Abenteuer mit Bienen. Lena Henkel entflieht allem Stress durch ihr Klavierspiel, indem sie Erinnerungen imaginiert, wenn sie spielt. Und Ines Klusmeyer schaut noch einmal durch ihre Sonnenbrille, die im Herbst achtlos im Regal liegt, und erinnert sich wehmütig an einen Urlaub voller Sonne, Freude und Aktivitäten.

Es ist ja so: Wenn man auf sich zurückgeworfen wird ohne die schrille Welt da draußen, die sich immer schneller zu drehen scheint und überhitzt – und das im Wortsinne -, dann erkennt man, was wirklich wichtig ist. Das demonstrieren die 13-bis 18-Jährigen. In sorglich wie liebevoll gestalteten „Tagebüchern“, die davon erzählen, was zählt. Es sind immer noch die guten alten Werte wie Geborgenheit und Zuneigung, Anerkennung und Ermunterung. Egoismus kommt nicht vor und  – das ist die beste Nachricht. Noch bis Weihnachten liegen die Arbeiten der Schülerinnen und Schüler in der Bücherei aus.

Barbara Kaiser – 18. November 2021

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