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Feuilleton

Rache einer Dame

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Theater-AG des Lessing-Gymnasiums nahm sich Friedrich Dürrenmatts an

Obgleich der Leiter der AG Theater des Lessing-Gymnasiums, Norman Holmes, zu Beginn gewarnt hatte, es hake schon an der einen oder andere Stelle, weil die Proben unter widrigen Umständen stattfanden – war der Beifall nach drei Stunden „Besuch der alten Dame“ unmittelbar und überzeugt frenetisch. Es war aber auch eine Leistung, die die 16 Akteure ablieferten. „Ein nachhaltiges Stück kulturellen Lebens an unserer Schule“, machte Schulleiter Daniel Fleischer im Mühen der Arbeitsgemeinschaft aus. Schließlich hatten alle neben ihrem Schulalltag, der, wie alle wissen, gefüllt genug ist, diesen Text von Friedrich Dürrenmatt bewältigt und ein überzeugendes Spiel (inklusive Ton- und Lichttechnik) auf die Bretter der Pausenhalle gestellt. Chapeau!

Taffe Polizistin: Bessy Keza

Taffe Polizistin: Bessy Keza

Das Recht ist ja integrale Größe einer Gesellschaft (so die eine Demokratie ist), die Gerechtigkeit jedoch ist immer relativ. Man kann sie kaufen, so man über die Mittel dazu verfügt. Claire Zaranassian hat sie, die Mittel; und sie ist nach Güllen gekommen, um Rache zu nehmen. Um sich das, was sie für späte Gerechtigkeit hält, zu erkaufen: Den Tod ihres einstigen Geliebten Alfred.
Friedrich Dürrenmatt stellte mit seiner bitteren Komödie nicht nur eine Parabel um die banale Wahrheit, dass Geld alles regelt, auf die Theaterbretter. Er hat vor allem ihre Verkehrung illustriert, dass eine Milliarde einer reichen Dame ganz plötzlich ein „moralisches“ Gewissen aktiviert, das einem armen Mädchen so niemals zuteil geworden wäre. Der Autor beobachtete und sezierte scharf, wie sich eine Kleinstadtgemeinschaft von einem loyalen Kollektiv zum Richter aufschwingt und sich dazu auch das Recht nimmt. Nach demokratischer Abstimmung, versteht sich.

Die Theater-AG hat sich des Textes aus dem Jahre 1956 angenommen und ohne große Kürzungen vom Blatt gespielt. Das Stück ist ja sowieso zeitlos, da kann sich der Bürgermeister auch den neuesten Laptop auf den Schreibtisch stellen oder ein Bürger „Tesla“ fahren. Auf Pump wie wir wissen. Denn bei dem empörten Statement des Bürgermeisters „Lieber sind wir arm, denn blutbefleckt“, bleibt es ja nicht. Und dass die Stadt Güllen eine „humanistische Tradition“ hat, weil Goethe hier einmal übernachtete und Brahms ein Quartett schrieb, interessiert am Ende sowieso niemanden mehr.

Ein Prost auf die Milliarde – das alte Trio Infernale: Bürgermeister-Pfarrer-Lehrer. Robert

Ein Prost auf die Milliarde – das alte Trio Infernale: Bürgermeister-Pfarrer-Lehrer. Robert Schlöffel, Leon Kühnemann und Linda Strohpagel.

Da waren alle schon lange der Forderung Claire Zachanassians gefolgt, hatten sie zu ihrer eigenen gemacht. Hatten ihren jovialen Bürgermeisterkandidaten Alfred Ill, hochgeachtet einst, zum „Schwein“ und Verräter erklärt, weil er Claire, als die noch Klara hieß, mit dem Kind sitzenließ, den Vaterschaftsprozess mit gekauften Zeugen abschmetterte und zusah, wie das Mädchen die Stadt verließ, um sich in Hamburg als Hure zu verdingen.
Das ist 50 Jahre her. Aber die Demütigung, die erlittene Not und das Leid hielten in Claire den Gedanken an Rache wach. Und nun war es so weit: Güllen, wo alle Züge nur noch durchfahren und alle Betriebe längst geschlossen sind, ist sturmreif geschossen für den großen Auftritt der alten Dame. Im Gepäck eine Milliarde.

Alte Liebe rostet nicht – oder doch? Kjell Boyken und Nele Anger als „alte Dame“

Alte Liebe rostet nicht – oder doch? Kjell Boyken und Nele Anger als „alte Dame“

Es war eine schöne Ensembleleistung, die die zahlreichen Zuschauer an diesem langen Abend sahen. Und es war offenbar doch noch genug Probenzeit, vor allem aber wohl Ernsthaftigkeit und der Wille, etwas Sehenswertes abzuliefern vorhanden. Das Spiel ließ obendrein assoziative Freiräume für den Zuschauer übrig. Was aber, das sei zugegeben, am Text des Dichters lag. Der eine oder andere Regieeinfall war jedoch auch dabei. Wenn Claire beispielsweise sich anstatt in einer Sänfte auf einer pinkfarbenen Sackkarre transportieren lässt. Es war ein sehens- und fühlenswerter Abend. Der eine souveräne Nele Anger als die „alte Dame“ zeigt, die sich der Macht ihres Geldes wohl bewusst ist. Kjell Boyken ist Alfred Ill; zuerst ein selbstzufriedener, alt und dick gewordener Kaufmann, später getrieben von der Angst vor dem Tod, den zu vollstrecken er seinen Mitbürgern nicht erspart. Am Ende ist er darauf vorbereitet und ohne Illusion. Weil auf die Versuchung und die Gier nach Reichtum immer Verlass ist.

Und wenn am Ende der Bürgermeister (Robert Schlöffel – so ganz Politiker!) den Bürger-Chorus, im Sophokleischen Sinne, anführt, dann wissen wir: Die sind mit sich im Reinen. Haben Unrecht, also Selbstjustiz, zu Recht umgeschrieben. „Nicht des Geldes, sondern der Gerechtigkeit wegen“, klingt dann wie Hohn. Und das „Wir können nicht leben, wenn wir ein Verbrechen unter uns dulden“ meint Ills Verrat von vor 50 Jahren. Nicht etwa die eigene Lynchjustiz der Gegenwart.

Es sei an dieser Stelle absichtlich keiner der Darsteller hervorgehoben, weil am Ende immer einer fehlen würde. Die beachtenswerte Leistung ist allen zu bescheinigen. Die genannten Hauptdarsteller hatten mehr Text, in Einsatz, Engagement und empathischen Spiel unterschieden sie sich nicht von den anderen. Der grauen Maus Mathilde etwa, Alfred Ills Frau, mit der Kyra von Husen im Nerzmantel zusehends aufblühte. Oder der taffen Polizistin Bessy Keza, die am Ende durchaus eine Ahnung von Polizeigewalt durchblicken lässt. Und von Marie Luise Naeves Butler, dessen stoische Ruhe nicht zu erschüttern scheint.

Kjell Boyken als Alfred Ill

Kjell Boyken als Alfred Ill

Und so gelang der Theater AG, die schon seit 15 Jahren unter Holmes` Leitung arbeitet, ein jederzeit anspruchsvoll zeitgeistiger Abend, dem eine Spielfreude immanent war, die man bewundern muss. Der Applaus war der aufrichtige Dank dafür.
Barbara Kaiser – 09. März 2023

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