Seite lädt...

Feuilleton

Mit ästhetischer Wucht – Zur Kunstvereinsausstellung mit Plastiken von Christin Müller aus Halle/Saale

teilen

„Oh, Gertraut Möhwald, mein großes Vorbild!“, ruft Christin Müller durchs Telefon, als wir miteinander sprechen und ich ihr sage, dass wir schon einmal eine Keramikkünstlerin von der Burg Giebichenstein im Uelzener Kunstverein ausstellten. Das war im Jahr 2007. Jetzt kommt mit der 1974 geborenen Müller wieder jemand, der sich diese Kunst erkoren hat, und die bedauert, dass sie Gertraut Möhwald nur einmal sah, als ihr Studium gerade anfing.

Christin Müller aus Halle/Saale, geboren im sächsischen Dohna, aufgewachsen in Dresden, dem Elbflorenz, was sie prägte, wie sie sagt, machte eine Ausbildung zur Keramikerin und erhielt für ihr Gesellenstück einen ersten Preis. Im Jahr 2002 begann die erfolgreiche Handwerkerin ihr Studium der Plastik und Keramik auf der Burg Giebichenstein. Dieser Ort ist Programm, da erübrigt sich jede Erläuterung. Sie schloss es im Jahr 2009 mit dem Diplom ab, erhielt ein Graduiertenstipendium des Landes Sachsen-Anhalt und ist seitdem freischaffend. In einer Ateliergemeinschaft wirkend, war sie bis jetzt weiterhin preisverwöhnt in Wettbewerben, schuf auch Kunst für den öffentlichen Raum, zum Beispiel für ein Krankenhaus, einen Friedwald oder Schloss Trebnitz/Salzlandkreis.

Die Ausstellung in Oldenstadt nennt Christin Müller „unterstroeme“. Die sind eine gefährliche Angelegenheit, denkt man daran, wie schwer sie es Schwimmern machen, das Ufer wieder sicher zu erreichen. Fasst man den Begriff weiter, so hat er zusätzlich etwas Geheimnisvolles, Beängstigendes auch. Wie „im Untergrund wirkend“ oder „unbewusst bleibend“ vielleicht.

Die gezeigten Skulpturen sind ohne jeden Zweifel Echoräume für eigene Empfindungen, Gedanken, Träume; jeder Betrachter wird etwas von seiner Sehnsucht wiederfinden. Manche Arbeiten sind ein Beben im Raum – der diesmal in Form des Langhauses ganz besonders geeignet scheint, diese keramischen Arbeiten aufzunehmen.

So fällt mir beim Anblick der „nymphe“ sofort das Gedicht von Johannes Bobrowksi (1917 bis 1965) ein, das der Dichter „Dryade“, was eine Baumnymphe ist, nannte. Die Plastik ist die am wenigsten „beschädigte“ der ganzen Ausstellung. Obgleich nicht glatt, so doch schön und verführerisch. Ist es eine gute oder eine böse Nymphe? Hat ihr schon ein Gott nachgestellt? Zeus vielleicht? Oder ist es die arme Nymphe Echo, die von Narziss zurückgewiesen wurde? Aber der hat seine Strafe ja dafür auch gekriegt.

Eine andere Plastik heißt so ähnlich wie die ganze Ausstellung: „unterstrom“, was sehr zweideutig zu verstehen ist. Duckt sich die Figur weg, vor dem Wasser oder anderem Gegenwind? Oder ist sie so angespannt, unter Strom eben, im Stress, wie es neudeutsch heißt, und deshalb kaum in der Lage den Blick zu heben?

Bilder oder Skulpturen scheitern nicht an Sprachbarrieren – das gibt ihnen Macht. Die der schreienden Agitation wie der leisen Subversion. Die eines möglichen Perspektivenwechsels oder der Erforschung einer zweiten Dimension. All das mag auf die gezeigten Arbeiten zutreffen. Sie sind atemberaubend archaisch, voller spröder Poesie und schöner Tabubrüche. Es gibt fragmentarische Plastiken, Torsi, kleine und große Figuren. Die ausgestellten Werke machen Lust auf Spurensuche: Wie viele Brüche verträgt ein Leben?

Mit dieser Frage kommt der Betrachter dem Anliegen, dem Credo, von Christin Müller am nächsten. Sie besteht darauf, dass es „nicht die Zerstörung ist, die ich darstelle. Ich sehe in den Brüchen vor allem eine Kraft.“ Die einem vor allem aus Erschütterung ohne Zweifel immer zuwächst. Weil es ohne Krankheit, Sterben, Abschied, ohne die Zerbrechlichkeit des Lebens, auch das Gegenteil, die Schönheit und Lust, Freude und Gemeinsamkeit nicht gäbe.

„Das Wachhalten von Wunschtraum oder Angsttraum ist die Aufgabe von Kunst.“ Das sagte Thomas Brasch, Autor und Regisseur (1945 bis 2001). Vor den Arbeiten von Christin Müller muss man sich entscheiden, welcher Art Träume man sich anheim gibt. Denn man wird hineingerissen in eine Leidenschaft der Beteiligung. Hier funktioniert das von der DDR-Kulturwissenschaft geprägte „dialogische Prinzip“ von Kunst und Betrachter wunderbar.

Christin Müller hat die Erfahrung gemacht, dass man über die Risse und Lücken an ihren Skulpturen ins Gespräch kommt, auch wenn die Imaginationen des Einzelnen stets andere sein mögen. „Die perfekt glatte Oberfläche reizte mich nie“, sagt die Künstlerin. Die Hauptsache aber ist für sie, „dass alle Figuren Kraft und Haltung haben“.

So wie Wissenschaftswissen nie absolut, sondern die Kunst der Annäherung ist, ist die Kunst ebenso stetiger Versuch, zu verstehen. Vor den Arbeiten von Christin Müller wird dieser Versuch zur lohnenswerten Expedition, die mit Fantasie zu präzisieren vermag, indem sie bei der Keramikerin hitzige Leidenschaft und das Unbekannte als eigene Bereicherung genießt.

Geöffnet ist die Ausstellung im Langhaus Oldenstadt bis 29. August 2021. Freitags und samstags von 15 bis 18 und sonntags von 11 bis 18 Uhr.

Barbara Kaiser – 06. August 2021