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Bevensen Lesung-Gerhard Henschel

Fotos: Barbara Kaiser

Gerhard Henschel las in der Buchhandlung Patz aus dem 10. Band seiner Martin-Schlosser-Saga

Der Autor hat errechnet, dass er sich mit 75 Jahren selber eingeholt haben wird. Da er Jahrgang 1962 ist, sollte das 2037 der Fall sein. Dann ist Gerhard Henschel auf zeitlicher Augenhöhe mit Martin Schlosser – der er seit inzwischen stolzen zehn Bänden ist. Seit mehr als 5600 Seiten. Seit ein junger Mann beschloss, sein Studium der Germanistik und anderer „taxifahrertauglichen“ Fachrichtungen abzubrechen und freier Schriftsteller zu werden. Seit sein Briefroman „Die Liebenden“ im Jahr 2002 die Leser:innen begeisterte, folgte in verlässlichem Abstand die Martin-Schlosser-Reihe mit den Titeln „Kindheitsroman“, Jugend-, Liebes-, Abenteuer-, Bildungs-, Künstler-, Arbeiter-, Erfolgs-, Schauer- und letztendlich „Schelmenroman“. Wie viel Ego gehört dazu, auf die meisten Cover Bildnisse seiner selbst zu platzieren?

Gerhard Henschel

Autor Gerhard Henschel

Am Wochenende las Gerhard Henschel in der Buchhandlung Patz in Bad Bevensen aus seiner neuesten Publikation, und die zulässige Platzzahl für 40 Besucher war besetzt. – Normalerweise habe ich Bücher, in deren Lesungen ich gehe, auch gelesen. Aber vor 5600 Seiten (und die Schlosser-Saga ist ja nicht das einzige literarische Produkt aus der Tastatur von Henschel) darf man kapitulieren. Auch interessierte mich die Menschwerdung eines Bundesbürgers, der in Hannover zur Welt kam, in Koblenz und Meppen groß wurde und jetzt im hiesigen Landkreis lebt, nur mäßig. Junge Leute haben überall auf der Welt denselben Liebeskummer, plagen sich mit der Pubertät mehr oder weniger exzessiv und sind auf der Suche nach einem Sinn für ihr Dasein. Den sie ausfüllen wollen mit einem Beruf, der möglichst von Berufung kommt und nicht nur ein Job ist, mit Zufriedenheit, Glück und Ähnlichem. Außerdem hießen meine Fußballhelden noch nie Beckenbauer und Effenberg, sondern Peter Ducke, Lothar Kurbjuweit oder Lutz Lindemann. Jürgen Sparwasser vielleicht auch, aber mein Enthusiasmus war da schon immer eher regional.

Um Fußball geht es auch im „Schelmenroman“, was Gerhard Henschel den Zuhörern vors Ohr brachte. Da protestiert sein Protagonist gegen die vermeintlich falsche Aufstellung in der Auswahl für die WM 1994, indem er sich an der DFB-Zentrale in Frankfurt/Main festkettet. Aber dieser Fußball-Dachverband hatte die Forderungen und Wünsche der Fans ja noch nie ernst und so auch den Ruf nach Austausch von Spielern auch damals nicht zur Kenntnis genommen. Andere Schelmenstreiche folgen, wie die Aufforderung, zum 100. Geburtstag von Ernst Jünger mit selbigem zu telefonieren. Die Diskussion des berühmten Wembley-Tores von 1974 (wieder Fußball, siehe auch Sparwasser!) ist auch textlicher Auszug dieses Lesenachmittags.

Gerhard Henschel plaudert in seinen Büchern. So, wie man einem Freund seinen Lebenslauf erzählt. Ob das immer in dieser Ausführlichkeit sein muss, bleibe jetzt einmal dahingestellt. Bei Henschel überkommt den Hörer an keiner Stelle die Befürchtung, der Autor könnte, ähnlich wie Thomas Mann, schon mal eine halbe Stunde für den perfekt geschliffenen Satz gebraucht haben. Obgleich der Autor Germanist genug ist, um dem Fußballer, für dessen Aufstellung er sich als Martin Schlosser einsetzte, den Unterschied zwischen „scheinbar“ und „anscheinend“ zu referieren. Was ja eigentlich ganz einfach ist, auch wenn man es inzwischen auch in Funk und Fernsehen falsch hört – ein Rasenballspieler begreift es sicherlich noch weniger?

Die Martin-Schlosser-Romane sind Unterhaltung. Sie haben sicherlich den Wiedererkennungseffekt für viele Leser – westwärts der Elbe. Vor dem Schreib-Marathon muss man auf jeden Fall den Hut ziehen. Denn wenn man älter wird, begreift man das ja am besten an den Zeiträumen, die verhandelt werden. Wenn da das Erschrecken Raum greift: Was, schon so lange her?

Im zweiten Teil der Lesung stellte Gerhard Henschel sein Buch „Putins nutzlose Idioten – Die schlechtesten Fälschungen des russischen Geheimdienstes“ vor, in dem er sich mit den angeblichen Lügen der Schlapphüte im Osten befasst. Bei solch Sujet bin ich immer zwiegespalten: Darf man einen Staatenlenker auf diese Art lächerlich machen? Ja, Putin ist der Aggressor und seine Träume vom großrussischen Reich sind  einfach dumm; aber der Mann durfte schon im Bundestag sprechen und auf der Münchener Sicherheitskonferenz! Was ist seitdem falsch gelaufen, dass er jetzt für den Westen das Böse schlechthin ist? Zu wenig Respekt vielleicht? Zu viel Lächerlichkeit? Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte. Und Satire darf eben auch nicht alles. Das jedenfalls ist meine Meinung.

Den Zuhörern in der Buchhandlung Patz war der amüsante Nachmittag zu gönnen, weil es eine Tatsache ist, dass in Ost und West über anderes gelacht wird. Das ist ja nicht schlimm, solange man sich noch um Verständnis bemüht. – So hoffe ich, dass Gerhard Henschel meine Einladung, sich einmal einem Porträt für unser gedrucktes Magazin zu stellen, annehmen wird. Wir hatten uns für den Spätsommer zunächst unverbindlich verabredet…

Barbara Kaiser – 14. April 2024

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