Gefundenes Leben
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Zum 80. Geburtstag des Thüringer Schriftstellers und Reporters Landolf Scherzer
Ob ich Landolf Scherzer meinen Freund nennen darf, weiß ich nicht. Wir kennen uns zwar persönlich seit mehr als 15 Jahren; seit ich seinen „Grenzgänger“ besprach, er sich dafür bedankte und zu einer Lesung anreiste. Es wandern auch die eine oder andere Ansichtskarte oder sogar Briefe (richtig per Post!) zwischen dem Thüringer Wald und der Heide hin und her. Von ihm kommen immer alte DDR-Karten – sogar eine von Jena, meinem Studienort, hatte er für mich gefunden – oder welche mit Verlautbarungen, die auch Meinung sind, von denen Landolf Scherzer weiß, dass ich sie teilte. Nein, nicht wie man bei Facebook den Daumen hoch oder runter anklickt, leichtfertig, oberflächlich, ohne nachzudenken oft, sondern Meinung, die Stand hält, eine Einstellung und Lebenshaltung ist.
Gesehen haben wir uns in diesen Bekanntschaftsjahren ebenfalls hin und wieder, das letzte Mal vor fünf Jahren anlässlich einer Lesung seines Buches über den Thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. „Der Rote“ hatte da gerade ein bisschen mehr als die ersten 100 Tage im Amt absolviert und die Mehrzweckhalle in Schmalkalden war gut gefüllt mit interessierten und wohlwollenden Zuhörern…
Alle Bücher nach seinem „Grenzgänger“ habe ich ebenfalls besprochen. Wo war der Reporter nicht überall gewesen! Aber ist man automatisch jemandes Freund, wenn man Interesse an seiner Arbeit hat? Verdient man diesen Ehrentitel, der Verlässlichkeit und Vertrauen voraussetzt, weil man jemanden mag, seine Art, auf Menschen zuzugehen, schätzt?
Ganz gleich – am 14. April 2021 wird Landolf Scherzer 80 und aus diesem Anlass soll er hochleben. Nicht nur, weil sich ein weiteres Buch in die Reihe der vorhandenen gesellt. In dem muss sich der Schriftsteller einmal selber befragen lassen, denn er stellt sich Hans-Dieter Schütt. Schütt, geboren 1948 in Ohrdruf, studierte Theaterwissenschaften in Leipzig, war in der DDR Journalist und veröffentlichte Biografien, Essays und zahlreiche Interviewbände. Die Erfahrung des kundigen Fragers und Zuhörers kann ihm also nicht abgesprochen werden, auch wenn ein gewisses philosophisches Extemporieren manchmal mit ihm durchgeht und Scherzer dann einwirft: „Stopp! So sehe ich mich nicht!“ Unter dem Titel „Weltraum der Provinzen – Ein Reporterleben“ hörte Schütt jetzt Landolf Scherzer viele, viele Stunden zu, weil der wahrhaft Mannigfaltiges zu erzählen weiß. Und von dem der Leser nun endlich einmal Selbstzeugnisse bekommt, denn in seinen Büchern war er stets der Beobachter geblieben.
Stellen Sie sich folgende Situation vor, liebe Leserinnen und Leser: Da klingelt einer an Ihrer Tür und will mit Ihnen reden. Oder gar bei Ihnen übernachten! Würden Sie ihn hereinlassen? Würden Sie mit ihm sprechen, ihm Ihren Wohnungsschlüssel anvertrauen? Einem Fremden? Es ist immer wieder so erstaunlich wie verblüffend, wie Landolf Scherzer die Leute zum Reden bringt ohne aufdringlich zu sein, und wie er auf dem Balkan immer Nachtquartier fand. Vielleicht, weil er einer ist, der mit seinem Blick Vertrauen und Aufgeschlossenheit suggeriert, der sich selber nicht zu wichtig, die Sache aber ernst nimmt, der sich nie in den Vordergrund drängt. Denn wer hörte den Menschen, die Scherzer traf, sonst zu – trotz aller gegenteiligen Versprechen und Versprechungen.
Auf dem Ankündigungsflyer zum neuen Buch steht ein Satz von Erich Loest, dem Schriftstellerkollegen, der diese große Wertschätzung nach dem „Grenzgänger“ schrieb: „Endlich hat sich jemand gebückt und den Stoff aufgegriffen, wie Steine, über die man nicht nur in den neuen Bundesländern täglich stolpert… Er hebt seine Steine auf, wendet sie und fügt sie in ein Mosaik. Diese Reportagen hätten auch woanders geschrieben werden können – meine Kollegen aber sahen die Steine nicht, über die sie täglich stolperten.“
Scherzer suchte und fand die Steine überall, nicht nur im Grenzgebiet der alten deutsch-deutschen Grenze: Er wanderte durch Osteuropa („Immer geradeaus“) und war, nicht als Sensationstourist, in Tschernobyl. Weil Voyeurismus eben nicht die Art unseres Reiseleiters ist. Er erörterte die Frage, wie es ehemaligen „Gastarbeitern“ Ost erging („Die Fremden“) und redete mit letzten Held-der-Arbeit-Geehrten der DDR („Letzte Helden“). Mit diesen Geschichten rührte der Schreiber an unser Herz – eine Mischung, die es auf diese Art nicht so oft gibt. Er war in Griechenland zu Zeiten der Syriza-Regierung, besuchte China und Kuba. Und er beschrieb in „Urlaub für rote Engel“ Menschen, ohne die diese Gesellschaft nicht am Laufen gehalten werden könnte. Ich bin der Meinung, dass diese Reportagen zu den besten aus Scherzers Feder gehören, obwohl Wertung immer auch zeitabhängig ist.
Ich gebe zu, von Landolf Scherzer vor 1988 nichts gehört zu haben; und wenn, dann nur am Rande. Vielleicht lag das schon damals daran, dass er keine Hofberichterstattung schrieb und nie lauthals drängelte. Oder weil er kritisch war und damit leider nicht an prominenter Stelle des Feuilletons vorkam. Als dann allerdings „Der Erste“ erschien, kannte ihn beinahe über Nacht jeder. Ich nun auch. Nicht nur, weil ich nahe Bad Salzungen einen quasi Zweitwohnsitz und er den dortigen Ersten Kreissekretär der SED in seinem Alltag begleitet hatte. Ich habe den „Ersten“, den Scherzer einen zu lang geratenen Zeitungsartikel, ein Protokoll einer Begegnung nannte, vor einigen Jahren wieder gelesen und mich gefragt, ob es wirklich so deprimierend war manchmal. Dass sich viele aufrieben für Kleinigkeiten und so insgesamt das Großeganze aus dem Blick kam. Dieser Hans-Dieter Fritschler rieb sich auf für die Leute. Die Achtung, die ihm entgegengebracht wurde trotz seiner Funktion oder gerade wegen dieser Arbeit, atmet aus dem Buch Scherzers. Es ist bedauerlich, dass man sich für derlei Bücher im Westen so gar nicht interessiert(e); denn die hätten für ein bisschen mehr Verständnis und Einsicht gesorgt.
Mit dem „Grenzgänger“ wurde der Schriftsteller auch im Westen ein wenig bekannter, aber dennoch muss man resümieren, dass seine Bücher dort nie das Echo fanden, das sie verdienen. Hier zeigt sich wieder einmal, wie langsam es geht, dieses Zusammenwachsen, das ja zuvörderst Interesse füreinander voraussetzt. Manchmal scheint es sogar, dass das Desinteresse nach 30 Jahren Einheit größer wird.
Bei Scherzer leben Unterhaltung und Aufklärung ein Miteinander. Er erzählt Geschichte in Geschichten. Allerdings nur für den, der sich für Geschichte interessiert. Der Schreiber läuft nicht mit dieser arroganten Das-weiß-ich-doch-sowieso-schon-alles-Einstellung durch die Welt. Der kann staunen über Dinge, die er vorfindet, kann sich befremden lassen von scheinbar Vertrautem. Erschüttern auch. Aber er verfällt nicht in Larmoyanz, obwohl manches zum Heulen ist, was er berichtet. Er hat viel gesehen, dieser wandernde Reporter, Dinge, die ihn hätten blind werden lassen können bei all dem Leid (vor allem in Afrika). Aber Scherzer schaut hin, schreibt auf und trägt niemals arrogant die eigene Bedeutsamkeit wie eine Monstranz vor sich her.
„Urlaub für rote Engel“ habe ich übrigens atemlos gelesen und als ich es zuklappte, war ich ein wenig erleichtert und sehr froh. Erleichtert, wie gut in Nach-Wende-Turbulenzen eigenes Leben gelang, aber: Man nimmt sich selber aus dem beliebten Ich-Fokus, erfährt man von anderen Schicksalen. Und froh, dass es so einen wie Scherzer gibt, der sich für uns auf die Socken macht und mit dem, was er nach Hause bringt, den Leser nicht ruhen lässt. Uns zu denken anstößt.
„Ein Romancier erfindet Leben, ein Reporter findet es“, stellt der Interviewer Hans-Dieter Schütt im Entree des neuen Buches fest. Und weiter: „Warum interessiert uns gefundenes Leben? Weil wir selber suchen…“ Und ein Freund Landolf Scherzers, Frank Quilitzsch, selber Reporter, der mit Scherzer die Welt des Öfteren bei Rotwein oder in der Sauna bespricht, urteilt in seinem Beitrag, der Schreiber ließe sich „von seiner Neugier und seinem Gewissen leiten. Um zu ergründen, was die soziale Welt im Innersten zusammenhält.“ Und was antwortet der Jubilar selber, nach seinem Credo befragt? „Nähere dich fremdem Leben nie wie einer, der schon alles weiß… Noch nie habe ich irgendeinen meiner Wege mit einer Traumreise verwechselt… Meine Neugier richtet sich nicht auf die Schlüssellöcher von Schlafzimmern, also nicht auf Dinge, die man nicht sehen soll, sondern auf Dinge, die, – so glaube ich – von anderen übersehen werden.“
Ich habe mich manchmal gefragt, wie der Autor das macht, sich von einer Spur nicht abbringen zu lassen. Auch, warum er nicht verzweifelt angesichts des Erfahrenen und immer wieder losgeht. Landolf Scherzer tut mit seiner Literatur das Gegenteil von dem, was Orhan Pamuk für Geschriebenes ausmachte: „Lesen und Schreiben bedeuten, aus der einen Welt herauszutreten und in der wundersamen Verschiedenheit der anderen einen Trost zu finden.“ Trost will Scherzer nicht vermitteln, er will wach halten. Und er fragt immer wieder, wie die Menschen ihre Welt (überall auf dem Globus) zusammen kriegen, wie sie Halt zu finden suchen. Und wenn wir Leser seine Bücher mögen dann deshalb, weil wir daraus etwas erfahren, weil sie uns aufhelfen. Manchmal aus der eigenen Trägheit, oft aus dem einen oder anderen Vorurteil. Weil sie Erkenntnisgewinn sind ohne belehren zu wollen
Landolf Scherzer wurde in Lohmen/Sächsische Schweiz in einem Elternhaus geboren, in dem heimliche Renitenz früh zu wuchern begann angesichts eines autoritären Vaters. Auf eine Frage, warum er nie über seinen Vater geschrieben hätte, antwortet Scherzer:
„Ich hätte im Grunde über einen Fremden schreiben müssen. Das widerstrebte mir. Wir sprachen nicht miteinander, wir kämpften. Aber aneinander vorbei. Jeder eingeschlossen in seine jeweilige Selbstbehauptung. Es gab Zeiten, da fühlte ich meinem Vater
gegenüber sogar eine Vorstufe zum Hass. Er war mir zuwider. Es gab knappe, explosive Wortwechsel… ich kam ab und zu besuchsweise, und wenn ich die Schwelle zu Hause übertrat, sagte ich mir: Für die wenigen Momente jetzt, nimm Rücksicht, atme tief durch, bleib gelassen. Meistens gelang es. Nicht immer.“ Oder: „Ich muss mich wiederholen: Große Locksignale kommen aus meiner Kindheit nicht. Es wurde beim Zusammensein getrunken und gesungen, natürlich, aber Gespräche sind mir nicht in Erinnerung.“ Der Junge Landolf suchte sich einen starken Mitschüler, dem er die Aufsätze schrieb – dafür beschützte der ihn vor Klassenkeile. Wahrscheinlich ging er schon immer lieber auf Menschen zu, redete mit ihnen. Gewalt verabscheut er.
Was soll man so einem Alltagserkunder und Wanderer zum 80. Geburtstag wünschen? Einem, mit dem wir an der Seite des „Zweiten“ blieben, dem Wessi-Landrat von Bad Salzungen, dem Nachfolger des „Ersten“. Mit dem wir einst den Wahlkampf vor einer Thüringer Landtagswahl beobachteten („Der Letzte“) oder uns auf einem DDR-Fischtrawler schunden („Fänger und Gefangene“). Mit dem wir festzustellen hatten, dass es die deutsch-deutsche Grenze, wenn auch nicht staatlich, so doch immer noch gibt, mit dem wir durch halb Europa wanderten? Der resümiert: „Ich bleibe ein Dorfschriftsteller. Vom Häuslichen gehe ich aus, das ist meine Gangart… Aber im Weltraum der Provinzen gibt es doch eine unendliche Weite.“
Wünschen wir Landolf Scherzer vor allem Gesundheit und ein „Gut-zu-Fuß“, obwohl er im Interviewbuch andeutet, dass es für ihn keine exzessiven Ausflüge mehr geben wird. Was ja aber nicht heißt, dass er von nun an die Klappe hält. Es ist bald Landtagswahl in Thüringen – wer weiß, auf wessen Spur danach zu bleiben ist? In den USA nach Trump ist auch noch keiner gewesen, obgleich der Dichter Interesse für dieses Land zu haben leugnet (was ich verstehe).
Aber natürlich hat die Stille des Thüringer Waldes auch ihren Reiz. Wo die viel beschrieene Freiheit nach selbst geernteten Zwiebeln riecht – die der Jubilar offenbar endlich erntet, nachdem erste Versuche fehlschlugen. Und wo seine Frau Ellen wahrscheinlich dafür sorgt, dass er nicht völlig als Waldschrat lebt, der sich morgens, egal bei welchen Temperaturen, vor der Tür des Häuschens mit kaltem Wasser übergießt. Er nennt sie liebevoll „meine Löwin“, das suggeriert und spricht über die Kraft, die man an seiner Seite manchmal braucht(e).
Herzlichen Glückwunsch zum 80., lieber Landolf. Ob Du nun mein Freund bist oder nicht – um die alte existenzielle Kindergartenfrage noch einmal an den Schluss dieser Laudatio zu stellen. Und die Frage, ob Du „angekommen“ seist, habe ich, wie Du merkst, nicht erörtert. Zitat: „Im Westen? Diese Frage stellen alle Journalisten. Die schlechten Journalisten zuerst.“ Außerdem kennte ich Deine Antwort – es ist die meine!
Barbara Kaiser – 08. April 2021