Eigenwillig und kreativ
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Zum Tod des Ebstorfer Malers Klas Tilly
Um die Arbeiten von Klas Tilly hat es oft genug Ärger gegeben. Denn durch den beißenden Spott seiner Bildreihen fühlten sich zu viele getroffen. „Die Tradition ist aufmarschiert“ etwa – eine schallende Ohrfeige für alle Hauptmannen und Majors der sich als wichtig gerierenden Schützenvereine. „Mir san mir“ – ein Bayer auf Mallorca, wo er den weißblauen Freistaat am liebsten oktroyieren wollte. Oder „Zwei elegante Damen reden über eine dritte“ – Welten tun sich auf, aus denen Szenen stürzen, wie man sie schon immer hasste. Bei Tillys Fixierung der Situation kann der Betrachter nur „Genauso!“ denken und die eigenen Erinnerungen namentlich fest gemachter Damen kichernd zu den Akten legen.
So charakteristisch bloßstellend sind viele dieser Bilder, obwohl ohne Augen, Ohren und Mund. Wie die berühmten drei Affen: nichts sehen, hören oder sagen. Aber alles besser wissen. „Die mussten sein“, erklärte Tilly dazu. Vor sieben Jahren hingen sie noch einmal im passenden Ambiente in der Woltersburger Mühle. Der Ebstorfer Maler durfte noch einmal zu seiner künstlerischen Keule greifen, auch wenn er die Provokation inzwischen nicht mehr so vordergründig suchte. Das Gute am Alter ist ja die unangreifbare Souveränität gegenüber allen Eiferern.
Am 25. Dezember 2021 hat der Maler sein Handwerkszeug für immer aus der Hand gelegt. Er starb im Alter von 82 Jahren in Lüneburg. Am 21. Januar 2022 wurde er im Friedwald Gartow bestattet. Er macht also auch im Tode noch einen Bogen um Uelzen, so scheint es. Hatte er sich doch genug über Kleingeister geärgert.
Aus dem Bund Bildender Künstler (BBK) war er schon lange ausgetreten, weil er sich nicht vorschreiben lassen wollte, doch in diesem Jahr mal zu diesem bestimmten Thema drei Bilder zu malen. Vielleicht war das schade, denn der BBK ist ja auch die geballte Kraft und das geschlossene Bild der Künstler vor Ort. Aber ein Sektierer in all dergleichen Organisiertheit der anderen wollte Klas Tilly nicht sein.
Einer seiner Lieblingssätze war von Henri Matisse: „Wenn wir von der Natur sprechen, dürfen wir nicht vergessen, dass wir ein Teil von ihr sind.“ Da war er auch sich selber gegenüber konsequent: Er besaß keinen Computer und ließ sich gerne vorhalten, er denke wohl noch, die Welt sei eine Scheibe. Aber er ließ sich nicht hetzen von diesen Medien und „computerdesigned“ war für ihn offenbar ein Schimpfwort. Seine Verbindung zur Natur pflegte er auf ausgedehnten Kanutouren durch halb Europa. Die Bilder, die nach diesen Reisen entstanden, habe ich am liebsten gemocht. Es sind mikrokosmische Großformate, die von den Flussrändern aufschauen ins Gewimmel der Moosen, Flechten, Käfer und alles Gewimmel.
Künstlerkollegin Anna Susanne Jahn hatte in ihrer Rede zur Vernissage im Arboretum im Juli 2006 Klas Tilly einen Romantiker genannt, „der angesichts des Mikrokosmos aus wimmelndem Leben, Strukturen und Farbtönen in einer Felsspalte oder in einem Tümpel die eigene Kleinheit spürt, aber ebenso die Größe und Großartigkeit des Universums.“
Ein Romantiker im weltabgewandten Sinne ist Klas Tilly jedoch nicht. „Es ist ja alles gesehen und hat fasziniert“, erklärte er.
Bei Vernissagen von Ausstellungen machte er sich sowieso lieber unsichtbar. Ob es seine eigenen Veranstaltungen waren oder die von anderen. Aber seine Arbeiten sind präsent! Wer beispielsweise in den Foyers des Klinikums Uelzen zum Warten gezwungen ist, dem werden die Bilder aufgefallen sein. Die Farbflächen-Fantastiken für Lust- und Denkspiele, die Landschaftsbilder von Klas Tilly.
Klas Tilly wurde im Jahr 1939 in Hannover geboren. Sieben Jahre später zog die Familie nach Uelzen. Der Vater war Künstler und wird der erste Lehrer sein, auch wenn er seinen Jungen immer warnte vor diesem vermeintlich freien Leben. Die Familie Tilly verbindet sich freundschaftlich mit der des Architekten Karl Schlockermann. Deren Sohn Jens ist so alt wie Klas – beide werden beste Freunde. Sie reisen mit 15 auf eigene Faust und heimlich nach Hamburg, wollen in die Kunsthalle. Dort sieht Klas Tilly ein Bild von Fritz Winter, aus dessen Serie „Triebkräfte der Erde“. Es sei in Rot und Ocker gehalten gewesen, und er sähe es ganz deutlich vor sich, sagte er noch nach Jahrzehnten. Dieser Ausflug in Sachen Kunst und der Lektüre der van-Gogh-Biografie wurde zur Initialzündung für die beiden Teenager: Wir müssen große Bilder malen. So schlossen sie sich eine Woche bei Brot und Marmelade ein (der Absinth kam erst später!) und malten auf dem Dachboden des Hauses Schlockermann.
Obwohl die beiden Väter vom Ergebnis dieser Klausurtagung angetan waren, unerbittlich zeigten sie sich darin, dass beide Sprösslinge einen „ordentlichen“ Beruf zu lernen hätten. „So ganz eingesehen haben wir das nicht“, wusste Tilly auch mit 80 noch. Aber er lernte Schaufenstergestalter und Plakatmaler, der Freund ging zu den Gesellen der „Schwarzen Zunft“ in den C. Beckers Verlag.
Natürlich wurde die Lehre ordnungsgemäß abgeschlossen, das war damals keine Frage. Irgendetwas Verrücktes musste dennoch her. So gründeten Klas und Jens eine Jazz Band! Sie hatten alte Schellackplatten gehört mit dieser Musik, und deshalb sollte es kein Glenn-Miller-Sound, sondern musste New Orleans Jazz sein. Vom Erlös ihrer zweiten Malaktion, Eltern und Verwandte zeigten sich den jungen Künstlern gnädig und kauften Werke, erstanden die inzwischen 18-Jährigen eine Posaune und eine Klarinette. Von 1957 an zogen die „Oddfish Jazz Babies“ durch ganz Niedersachsen. Es gab einen Jazz Club in Uelzen, in dem der berühmt-berüchtigte Absinth dann nicht fehlte.
Im Jahr 1962 begann Tilly sein Studium an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Die Bewerbung dorthin gibt er noch heimlich ab, weil der Vater der Warner geblieben war, was einen künstlerischen Beruf betrifft. Aber das Dasein verweigert einem ja oft die rettende Übersicht – und schief gegangen ist es mit Klas Tillys Laufbahn letztlich nicht.
Zunächst in der Metallgestalter-Klasse eingeschrieben, wechselte er zu den Malern. Und er erkannte auch, dass sein schwarzer Anzug beim Antritt des Studiums ein wenig overdressed war. (Hat einer Klas Tilly je in einem Anzug gesehen?) Der Ebstorfer (seit 1968) schwärmte von den Lehrern an der Hochschule. Es waren viele Bauhaus-Leute dabei, ein Professor war Beckmann-Schüler, einer hatte bei Paul Klee seine künstlerischen Vorstellungen ausbilden dürfen. Letzterer, Professor Hans Thiemann, besprach mit seinen Studenten wöchentlich die entstandenen Arbeiten. „Der Beste bekam eine Tafel Schokolade als Auszeichnung“, erinnerte sich Tilly. „Ich habe sie drei Mal bekommen.“
Und dessen Satz: „Haben Sie ruhig einmal den Mut zu sagen, das verstehe ich nicht“, ist für Tilly prägend und wichtig geblieben. Er verachtete Leute, die zu allem etwas zu schwadronieren hatten. So kam er wohl dazu, „Vernissagen und derlei Veranstaltungen“ nicht zu mögen. „Am liebsten würde ich meine Bilder einschließen. Man arbeitet doch nicht, damit andere es sehen!“, so die Begründung. Aber wäre er so autark gewesen, dass er das durchgehalten hätte?
Die Bilder des Künstlers sind hypnotische Instinkte, die wach würden, hielten wir nur öfter inne. Vitale, heftige Farbströme, die das Abbildhafte zum psychisch-assoziativen Element verdichten. Man glaubt, der Sekundenbruchteil eines fließenden Prozesses sei festgehalten, dessen zeitliche Verschiebung sofort eine andere Konstellation ergeben müsste. Der Maler wollte, dass „die Leute in den Bildern arbeiten“. Die Landschaften von Klas Tilly sind eine Modulation von Farbe, die der Künstler kontrapunktisch zum Klingen brachte. Mit aller Ahnung des Möglichen.
Zahlreiche Bilder und Skulpturen im öffentlichen Besitz kamen aus seinem Atelier. Das Historische Siegel der Stadt Uelzen beispielsweise, eine Plastik zur Dorferneuerung Ebstorf, ein Relief zur Eröffnung des Grenzübergangs Böhmenzien-Kapern. Arbeiten im Gebäude der (ehemaligen) Bezirksregierung Lüneburg und des Kulturministeriums Hannover. Er hatte unzählige Ausstellungen beschickt, von Hamburg über Schwerin bis nach Rouen, hatte Bildbände und Kalender publiziert und sich eingemischt bei politischen Aktionen. Tilly hatte Drohungen erhalten, weil er der Schöpfer des Uelzener Mahnmals für die Opfer des NS-Regimes war, dennoch kam der Entwurf für die Tafel zur Erinnerung an die deportierten und ermordeten Juden der Stadt ebenfalls von ihm.
Nun ist Klas Tilly gestorben. Ein langes Leben, dem Vieles vergönnt war, ist beendet. Ein Gedanke machte den Verlust erträglicher: Die Vorstellung, Tilly säße mit seinem besten Freund Werner Steinbrecher (1946 – 2008) zusammen. Das Rotweinglas auf der Bande des Billardtisches. Sie besprächen die Welt, ob sie die ein klein wenig verbessern konnten durch ihr Tun in den letzten vor allem 30 Jahren, seit der Kalte Krieg beendet schien. Ich fürchte, die Bilanz fiele nicht allzu positiv aus. Aber das wäre eine andere Erzählung…
Barbara Kaiser – 12. Februar 2022