Der allseitig interessierte Bücherwurm
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Zum Tod von Heinrich Bergel, ohne den die Kulturszene Bad Bevensen ärmer gewesen wäre
Jetzt hat der Mann die Bücher also für immer zugeschlagen. Dabei hatte Heinrich Bergel vor zehn Jahren, als wir uns für die Reihe „Lesen!“ (AZ) in seinem Haus trafen, nahezu voller Panik ausgerufen: „Ich habe ja Angst, dass ich was verpasse; deshalb lese ich so schnell.“
Bergel war der lebendige Beweis dafür, was Lesen mit einem macht, aus einem Leben macht. Er betrieb es exzessiv, aber stringent nach Themen sortiert. Er war hochgebildet, allseitig interessiert und wir teilten auch die Liebe zum Erzgebirge – von Seiffen und seiner Holzkunst schwärmte er regelrecht. Noch vor kurzem trafen wir uns in einem St.-Marien-Konzert.
Nur in einem war er stur: Er verweigerte ich dem Internet. Und auf seine Frage, wann er denn wieder mal was von mir lesen könne, musste er sich mit dem gedruckten Barftgaans-Magazin begnügen, für diese Homepage hier war er nicht zu erwärmen. Vielleicht würde ihm also nicht gefallen, dass ich nur virtuell meine Wertschätzung für ihn nach-rufe?
Heinrich Bergel saß 30 Jahre lang in Stadt- und Samtgemeinderat Bevensen, leitete dort mehr als 15 Jahre den Kulturausschuss. Daneben war er im Vorstand und auch erster Vorsitzender des Kulturvereins Bad Bevensen. Er fehlte bis zum Schluss in keiner Theaterveranstaltung an der Lindenstraße oder im Kurhaus. Nun ist er, 88-jährig, gestorben.
„Ich müsste 20 Stunden am Tag lesen können!“, rief er manchmal aus und es klang wie Klage und Stoßseufzer gleichermaßen angesichts der Unmöglichkeit solch Ansinnens. Drei Stunden und mehr tat er es aber täglich. Manchmal machte er in der Nacht um drei das Licht an und las. Was seiner Frau nicht so gefiel.
Geboren wurde Heinrich Bergel im April 1934 in Schlesien in einer seit fünf Generationen Gastwirtsfamilie. Gelesen wurde da zu Hause, wie man sich vorstellen kann, eher nicht. Aber der Junge schlug aus der Art. Seine Mutter gab es irgendwann auf, solche Bücherwurm-Leidenschaft zu bremsen; ständige Wachsamkeit ist ja auch anstrengend.
Relativ spät, im Jahr 1947, wurde die Familie aus Schlesien vertrieben. Noch im selben Jahr kam sie in Bevensen an, der Vater war davor schon in Schleswig-Holstein gestrandet. Heinrich Bergel absolvierte die Mittelschule. „Ich kann nicht sagen, dass die Schule ein Graus war“, resümierte er. Obwohl die Lehrer noch schlugen, schlagen durften, und die Naturwissenschaft nicht so Seins war. Gelesen wurde Klassik und „im Geschichtsunterricht kamen wir bis zur Weimarer Republik, nie weiter.“ Die Gründe dafür kennt jeder. Dem jungen Mann erschlossen sie sich erst später vollständig. Dann allerdings würden ihn dieser Abschnitt deutscher Geschichte, ihre Ursachen und deren Folgen, ein Leben lang beschäftigen.
Im Jahr 1961 reiste der 27-Jährige, der nach der Schule eine Laufbahn im mittleren Dienst der Post absolvierte und später, bei seiner Pensionierung, Postamtmann war, das erste Mal nach Jerusalem. Es war die Zeit des Eichmann-Prozesses, der von April bis Dezember dort stattfand. Der Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer, Massenmörder, einen der Hauptorganisatoren der so genannten „Endlösung der Judenfrage“. Heinrich Bergel erfuhr von den faschistischen Gräueln das erste Mal und „es hat mich nie wieder losgelassen.“
Seit 1969 betreute Bergel israelische Jugend-Austauschgruppen, 15 Jahre lang fuhr er zu Gegenbesuchen mit. Im Jahr 2011 zählte er seinen 20. Jerusalem-Besuch. Wenn er von Yad Vashem, der bedeutendsten Gedenkstätte für die Opfer des Holocaust erzählte, wird der Zuhörer still. „Ich war vier Mal drin“, sagt er nur. „Dann konnte ich es nicht mehr ertragen….“ Leider kann ich nun mit Heinrich Bergel nicht mehr diskutieren, ob er den Staat Israel heute als den Aggressor sieht, der er ist. Wahrscheinlich. Denn er beschäftigte sich neben all der Literatur über jüdische Geschichte und Staatsgründung, Antisemitismus, deutsche Schuld und heutige Verantwortung auch mit dem Israel-Palästina-Konflikt. Er habe die andere Seite verstehen wollen, die der Araber, sagte er.
Mit Bergel konnte man über alles reden, weil seine Kenntnisse breit gefächert waren. Nie würde er aber damit renommiert haben! Er war neben Bundesverdienstkreuz-Träger selbst auch „Theaterdirektor“ einer Laienspielgruppe, die immer den Saal an der Lindenstraße zu füllen wusste. „Was haben wir alles Schönes gemacht!“ Vom so genannten Regie-Theater hielt er nichts, „ich bin da konservativ klassisch“.
Heinrich Bergel war ein Frager, kein selbstgerechter Besserwisser. Er besaß, bei aller Ernsthaftigkeit, viel Humor. Es ist anzunehmen, dass er nicht alle Bücher geschafft hat, die er noch lesen wollte. Schafft man heute ja auch nicht mehr. Aber so viel Leidenschaft, wie er sie den Gegenständen seines Interesses zu Teil werden ließ, wünschte man sich heute grundsätzlich. Er wird mir fehlen, der kleine, aufmerksame, liebenswürdige Mann.
Barbara Kaiser – 11. Dezember 2022