Demokratien der Existenz
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Stehe ich vor einem Haus, kann ich nicht gleichzeitig auch seine Rückseite sehen. Stehe ich in einem Haus, sehe ich nicht seine Fassade. Stehe ich im Flur, weiß ich nicht, was just in dem Moment in seinen Zimmern passiert. Stehe ich im einen Zimmer, bin ich nicht im anderen Zimmer anwesend. Der Mensch kann ein Ding nie in seiner Gesamtheit wahrnehmen. Mit dieser Limitierung spielte bereits der Kubismus in der Kunst (z.B. Picasso) und der Perspektivismus in der Architektur (z.B. Frank Gehry). Und so, wie es sich mit meiner Sinneswahrnehmung verhält, verhält es sich auch mit der Wissenschaft: Jede Forschung nimmt eine Perspektive ein, entscheidet sich für eine Methode und untersucht einen konkreten Aspekt. Daher traf man die Unterscheidung von Ontologie und Epistemologie. Ontologie beschäftigt sich mit der Frage: Was (ist das, was) ist? Epistemologie befasst sich mit der Frage: Was können wir wissen? Diese Unterscheidung sensibilisiert dafür, dass ich das, was ist, niemals auf das beschränken kann, was ich über es weiß. Ja, wir Menschen können die Welt wahrnehmen, doch Wahrnehmung bleibt ein gewährter Zugang, ein Einvernehmen, kein Einverleiben. Der erste demokratische Moment dieses Beitrags. Im Ontologischen schwinden die Differenzen: Palästinenser oder Israeli, Mann oder Frau, alle sind gleich, weil sie sind, und nur das interessiert in diesem Kontext. Das, was ist, wiegt höher als das, was nicht ist, aber sobald etwas ist, ist es gleich, d.h. auch gleichwertig mit allem anderen, was auch ist, eben weil es Teil dieses „Auchs” ist. Der zweite demokratische Moment. Hier spielen wir jedoch nicht das gängige Spiel des Präsenz als den Vergangenheiten und Zukünftigen übergeordnet: Nur weil etwas gegenwärtig ist, ist es nicht mehr als etwas, das vorherig war oder zukünftig sein wird. Eine Möglichkeit ist also eine Existenz wie jede andere, ob ergriffen oder nicht. Ebenso verhält es sich mit Vergangenheiten, ob erinnert oder nicht. Damit weitet sich der Bereich des Existierenden. Der dritte demokratische Moment. Doch was ist denn nun das, was ist? Unter welchem Begriff kann jegliche Existenz als Existenz zusammengefasst werden?
Auf herkömmliche Weise verstehen wir die Welt als untergliedert in voneinander unabhängige Einheiten. Unsere nominale Sprache verleitet uns zu so einem Weltbild: Das Haus, die Atombombe, das Auto, die Banane, die Europawahl. Dabei hatte der Mensch stets eine Vormachtstellung inne, gewonnen aus dem Konzeptpaar „Subjekt“ versus „Objekt“. Um dieser aus ontologischer Sicht jedoch unbegründeten Hierarchisierung (der Mensch ist nicht mehr oder weniger existent als eine Banane) entgegenzuwirken, schlägt die gegenwärtige amerikanische Philosophie- Sparte der „Objektorientierten Ontologie“ das „Ding“ als Begriff der Existenz vor. Der vierte demokratische Moment. Ich denke, das kann nur ein Schritt im Prozess sein, denn de facto existieren wir ja nicht jeder in seiner Luftblase. In meiner Arbeit zeige ich, dass das, was wir bisher als Ding verstehen, vielmehr ein Knoten in diversen Netzen ist (am Beispiel Mensch: ein Knoten im Netz des Dorfes, des Verkehrs, des Unternehmens, der Familie, etc.) ebenso wie ein Netz aus Knoten (Erinnerungen, Wünsche, Besitz, etc.). Der von mir ins Spiel gebrachte Begriff ist also der “Netz/Knoten”. Mein Impetus: Es wird Zeit, sich von unserer Schulbuch-Ontologie (das Haus, die Banane, …) zu befreien und der Realität in ihrer Verwobenheit zu begegnen. Mindestens ein fünfter demokratischer Moment steht noch aus. [Dr. Swantje Martach ]
Dr. Swantje Martach promovierte in Philosophie an der Autonomen Universität Barcelona und der Universität der Künste London. Vor zwei Jahren hat sie sich mit Mann,
Hund und nun zwei Kindern in der schönen Heide niedergelassen, genießt seither das Landleben und lehrt von hier aus an der Akademie für Mode & Design in Wiesbaden. Zu finden ist sie auch auf Instagram: @swantjemartach.