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Feuilleton

Das Jahr 1871 – Mal ein bisschen Geschichte

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Nein, es soll hier nicht vorrangig um die viel diskutierte Reichsgründung, dem „Meisterwerk“ Otto von Bismarcks, gehen. Obgleich ich der Meinung bin, dass man dieses Thema nicht den braunen Pflanzen überlassen darf. Denn die sind ja nicht mal in der Lage, die Symbole dieses Stücks Geschichte richtig einzuordnen. Sonst wüssten sie, dass die schwarzweißrote Flagge ein Ergebnis der Gründung des Norddeutschen Bundes 1866 war und nicht der Konstituierung von 1871 geschuldet ist. Fünf Jahre davor fanden sich die Länder nördlich der Mainlinie als Militärbündnis zusammen – wie könnte es bei Deutschen auch anders sein – unter der Führung Preußens, die das Schwarz und Weiß mitbrachten und den anderen das Rot zugestanden. Immerhin.

Ob man diesen Zusammenschluss schon Fortschritt nennen darf angesichts der Bestrebungen seit Lessing, Schiller und Goethe, die über die Sprache einen einheitlichen deutschen Nationalstaat nach den Vorbildern Frankreichs oder Italiens zu formen vorhatten? Die Deutschen wiesen lange Zeit keinen Hang zur Ausbildung einer modernen Staatsnation auf, ihnen war das bestehende Konzept des römisch-deutschen Reiches lieber. Seit dem 15. Jahrhundert führte das Territorium den Namen Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. Die deutschen Kaiser wurden in Rom gekrönt.

Die Befreiungskriege gegen die napoleonische Fremdherrschaft griffen das Nationalstaatsprinzip erstmals wieder auf, die breite Masse der Deutschen war jetzt für eine Nationalbewegung, die auf alle sozialen Schichten ausstrahlte, zu begeistern. Ablehnend verhielt sich natürlich der Adel, der sich aufgrund solcher Forderungen in seinen alten Rechten beschnitten sah, die Kleinstaaterei wäre dann Geschichte. Denn favorisiert wurde ein zentralistisches Regierungssystem, das auf parlamentarischer Grundlage stehen sollte. Träger der revolutionären Nationalstaatsgedanken waren vor allem die Deutsche Burschenschaft, heute eine Klientel, die mit Fortschritt nicht mehr zu verbinden ist, die 1817 auf dem ersten Wartburgfest nach einem Einheitsstaat rief. Zum Hambacher Fest 1832 versammelten sich rund 30 000 Besucher aus ganz Deutschland und begründeten die deutsche Nationalbewegung. Erstmals traten die Farben Schwarz-Rot-Gold als gesamtdeutsche politische Symbolik in Erscheinung. Die Revolution von 1848, die auch diese Fahne trug, ihre Niederschlagung und die Verfolgung von Anhängern einer liberalen, republikanisch-demokratischen oder sozialistischen Gesinnung veranlasste Zehntausende zur Flucht aus den deutschen Staaten. Damit war erst einmal Schluss mit Aufschwung.

Der von Deutschland provozierte Deutsch-Französische Krieg von 1870/71, für den sich die süddeutschen Staaten, unter Zusicherung zahlreicher Sonderrechte, dem Norddeutschen Bund anschlossen, hatte dann das bekannte Ergebnis: Am 18. Januar 1871 riefen die deutschen Fürsten im Versailler Spiegelsaal ein Reich aus, das seiner Verfassung nach ein Kaiserreich auf bundesstaatlicher Ebene war. Als Nationalflagge kam natürlich das demokratisch besetzte Schwarz-Rot-Gold nicht in Frage, jedoch erst 1892 wurde dafür Schwarz-Weiß-Rot festgelegt. Reichskanzler und Reichsbeamten waren dem Kaiser verpflichtet und nicht dem Parlament. Die gewählte Volksvertretung konnte die Regierung lediglich kritisieren und kontrollieren, ihr aber nicht das Vertrauen entziehen und deren Rücktritt erzwingen. Und: Wieder hatten sich die Deutschen auf fremdem Territorium ihren Kaiser krönen lassen. Früher in Rom – jetzt im besiegten Frankreich. Vorher war man noch hilfreich bei der Niederschlagung der Pariser Kommune gewesen (siehe auch Feuilleton im Netz „Vorbotin mit roter Fahne“). Dieses Kaiserreich würde eine aggressive Kolonialpolitik betreiben und am Ende Mitschuld am Ersten Weltkrieg tragen. – Hier in meinem Wohnviertel flattert eine schwarzweißrote Fahne, sie ist von Wind und Wetter so zerfranst wie das Gedankengut, das die Träger dieser Farben auf gegenwärtigen Demonstrationen bezeugen; unreflektiert und provokativ.

Im Jahr 1871 wurde aber auch Heinrich Mann geboren. Wie kein anderer hat er den Staatsbürger dieses Deutschen Reiches in seinem „Untertan“ auf den Punkt gebracht. Tucholsky nannte das Buch die „Bibel des Wilhelminischen Zeitalters“. Diederich Heßling avancierte zu einer Grundfigur der nationalen Geschichte, andere Völker bekommen durch diese literarische Figur einen Begriff vom „deutschen Untertan“. Vielleicht ist er Anschauung bis heute? Heinrich Mann hatte für seinen Roman 1911 auf der Zuschauertribüne des Reichstages gesessen, um Material zu sammeln. Er schrieb später über eine „Instinktverlassenheit dieses Bürgertums, die furchteinflößende Autorität“, die sich im Saale breit machte und nicht bemerkte, „dass an ihnen das Land zugrunde geht.“ Heinrich Mann sei der gesellschaftsbewussteste von allen deutschen Schriftstellern, lobte ihn sein jüngerer Bruder Thomas im Jahr 1925. Er arbeitete auch im Exil (ab 1933 über Frankreich in die USA) wie besessen, obgleich ihm nicht der Erfolg seines Nobelpreis-Bruders beschieden war. Nach dem Krieg setzte sich seine Verkennung im Westen Deutschlands fort, denn seine Maxime, „dass die Literatur zeitgeschichtlich bedingt und den Kämpfen der Mitwelt verpflichtet ist“, ist bis heute nicht sehr populär. Und wenn ihm Leute wie Marcel Reich-Ranicki im Jahr 1987 allen Ernstes jegliches Schriftstellertum absprachen und ihn zu vergessen empfahlen, oder Joachim Fest ihn einen „Unpolitischen“, schwankend zwischen „humaner Vernunft, Verblendung und Gespensterglauben“ nannte, kann man dazu nur den Kopf schütteln. Heinrich Mann hat den Deutschen wie kaum ein anderer der Zeit hellsichtig und mutig ihre Großmäuligkeit und latente Aggressivität als Spiegel vorgehalten – in Zeiten unfassbarer Geschichtsklitterung erkennt man, wie Recht er hatte.

Ein anderes Geburtstagskind aus dem Jahr 1871 ist Rosa Luxemburg. August Bebel nannte sie ein „sehr gescheites Frauenzimmer“, was wohl damals ein sehr großes Kompliment war. Luxemburg, diese kleine Frau aus dem polnischen Zamośč, die die Menschen und die Natur liebte, die sich mit Lenin anlegte, Marx` Schriften in die Gegenwart holte und für die Akkumulation Diebstahl war. Ihr Kampfgefährte Karl Liebknecht ist genauso alt. Liebknecht, der sich als einziger SPD-Abgeordneter den Kriegskrediten verweigerte, der im Reichstag 1914 ausrief: „Solange Leben in mir ist, werde ich gegen den Militarismus kämpfen…“ Diesen Satz hatte die Reaktion sich sehr genau gemerkt; am 15. Januar 1919 erschoss sie Liebknecht und Luxemburg. Der erste Reichstagspräsident Friedrich Ebert, auch Jahrgang 1871 und SPD-Genosse, wird es Recht gewesen sein. Ließ er doch die Arbeiteraufstände der 1920er Jahre auch niederschießen.
Was wird noch 150 Jahre alt in diesem Jahr? Der Paragraf 218! Dieser diffamierende Absatz des Bürgerlichen Gesetzbuches, der Frauen bis heute das Recht auf den eigenen Körper und die Selbstbestimmung über eine Schwangerschaft verweigert. In der DDR war man da übrigens schon einmal weiter; ab 1972 waren die Abgabe der Verhütungsmittel und der Abbruch einer Schwangerschaft legal und kostenfrei.

Und aus gegebenem Anlass: Nicht erst vor 150 Jahren, sondern bereits im 19. Jahrhundert, dachte man in Deutschland schon einmal über eine Impfpflicht nach! Als nach dem Deutsch-Französischen Krieg 400 000 französische Kriegsgefangene in Deutschland interniert waren, 19 000 davon in Köln, und die deutschen Bürger Ausflüge zu den Straflagern unternahmen, um den „Feind“ zu besichtigen, steckten sie sich mit den Pocken an. Die Kölner Behörden appellierten an die Bevölkerung, sich „auf der hiesigen Impf­anstalt“ impfen zu lassen. Allerdings stießen sie damit auf eine „unverantwortliche Gleichgültigkeit“. Allein in Köln starben 500 Menschen an den Pocken. Und eine Impfpflicht gibt es bis heute nicht. Dafür aber genügend Leute, die dagegen krude Verschwörungstheorien setzen.

[Barbara Kaiser]