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Auftakt zur Karwoche

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Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion am Palmsonntag in St. Marien aufgeführt

Es war erst Palmsonntag, als Erik Matz und seine Akteure die Woche übersprangen und das atemlos lauschende Publikum in St. Marien mitnahmen nach Gethsemane, wo die Häscher an die Tür klopften und Jesu gefangen nahmen. Es bleibt die stete Frage, die man sich, zumindest in der menschlichen Dimension, stellen darf: Wie konnte sein, dass dieser Mann fünf Tage zuvor triumphal in Jerusalem empfangen wurde? Später nicht einmal seine engsten Vertrauten mit ihm wachen wollten, ihn verrieten, gar verleugneten und zuließen, dass er vor Gericht gezerrt wird? Dass sie „Kreuzige!“ schreien? Wie viel wert war diese Kollektivität von eigentlich Gleichgesinnten, den Jüngern? Wer zöge angesichts dieser Geschichte nicht immer währende Parallelen bis in die Gegenwart?

Die Johannes-Passion kam zur Aufführung. Diese Erzählung gemäß dem Bilde des Johannes-Evangeliums, das Johann Sebastian Bach auf Einheit und Zusammenfassung bedacht musikalisch behandelte. Der Ton des Ganzen ist entsprechend streng und bewegt sich in einem engen Kreis, das g-moll des Anfangschores bleibt der Kammerton des gesamten Werkes.

Rund drei Dutzend Sängerinnen und Sänger der St.-Marien-Kantorei, jeweils drei erste und zweite Violinen, zwei Bratschen, alle anderen Instrumentalstimmen einfach besetzt – „Das hat seinen Reiz und ich freue mich sehr darauf“, sagte Erik Matz vorab. Und: „ Der Chor klingt richtig gut und in den Proben stimmten die Intonation, der Ausdruck und die Textverständlichkeit.“ Zudem wüchsen die eigene Begeisterung und Hochachtung vor dieser Partitur und seinem Komponisten weiter, war sich Matz sicher.

Zudem war auch er, wie in der eingangs gestellten Frage, darauf aus, „die Johannespassion  stärker in Verbindung treten (zu lassen) mit dem Jetzt und Hier. Was wollen uns die Texte sagen?“, überlegte der Kantor in der Vorbereitung, „was haben damals die Textdichter in ihrem Leben wohl alles erfahren, welche Kraft, welchen Trost und welche Erbauung hat diese Musik den Menschen früher gegeben, und was kann sie uns heute vermitteln? Das sind alles für mich lohnenswerte Gedanken.“

Hat diese Konzeption funktioniert auch im Publikum? Ganz offenbar. Aufregend, anrührend, zwischen Verzweiflung und Erlösung, hochenergetisch und ungeheuer spannungsvoll spulten die zwei Stunden ab, im Gefühl viel schneller als 120 Minuten normalerweise währen. Man saß gebannt und die Zeit verflog wie ein Wimpernschlag. Am Ende standen wieder einmal Lehre und Erkenntnis: Wie tief die alten Texte an Gegenwart rühren, wie modern Geschichte und Musik in all ihrer Erschütterung sind.

Yuna-Maria Schmidt

Es ist immer noch und vielleicht heute mehr denn je die Geschichte von Wahrheitssuche und Verleugnung, Hysterie, Reue und Verherrlichung. Die Johannes-Passion ist neben der Matthäus-Passion die authentischste, weil sie Bibeltexte wortgetreu vertont; als Choräle fungieren meist bekannte Kirchenlieder.

Kantor Erik Matz hatte sein Ensemble hervorragend vorbereitet. Es war ein Konzert nahezu ohne Defizite. Der vom ersten Ton unerhört sangesstarke Chor übernahm mehrere der verschiedenen Erzählperspektiven in jeweils angemessenem Kolorit. Er war die agil und in überzeugender Weise kommentierende, betrachtende und ermahnende Instanz in den Chorälen und stellte das fanatisierte, sein Opfer fordernde Volk eindringlich-hektisch, klar und energisch vors Ohr des Zuhörers.

Das Ensemble hatte die stimmige Beweglichkeit für die auf- und abwärts heulenden Läufe, die in die Dissonanz treiben ( „Wäre dieser nicht ein Übeltäter…“) und das Format für die scharf rhythmisierten Intervalle der Aufforderung  „Kreuzige, kreuzige…“.

Nicole Dellabona

Das Rückgrat der Passion ist der erzählende Evangelist, der in André Khamasmie (Tenor) einen dramatisch erzählenden Partner besaß. Der Sänger verfügt in den Rezitativen über feine Nuancen einer gestaltenden, deutlichen Artikulation und war in guter Form für diesen Marathon. In den Arien blieb er manchmal schwächer.

An seiner Seite die Bassisten Ansgar Theis (Jesus) und Konstantin Heintel (Pilatus, Arien). Beide mit einem wunderbaren und vor allem charismatischen Timbre begabt, das der Erhabenheit des Gottessohnes auch im Leiden beziehungsweise der souveränen Macht, die kaum einen Zweifel kennt, Stimme verlieh. Jesus` „Es ist vollbracht“ schwebte durch das Kirchenschiff und senkte sich wahrscheinlich in  jedes Herz – die Musik weicht hier nach h-moll, der Klagetonart Bachs. Yuna-Maria Schmidt mit einem beweglichen Sopran und Nicole Dellabona (Alt) ergänzten das Tableau der Solisten und agierten über weite Strecken auch glücklich.

An ihrer aller Seite ein Orchester, das durch die Gabe auffiel, die Instrumente klangvoll zu beherrschen und nur ganz selten zu prominent war. Die Musiker bezeugten auch in der genannten kleinen Besetzung an jeder Stelle souverän die Vielfalt Bachscher Harmonik.

Konstantin Heintel

Dass Erik Matz in seiner ihm eigenen Unaufgeregtheit alles zusammen hielt, darf der Zuhörer erwarten. Es sei jedoch nicht vergessen, dass er zuvor alle Akteure zu dieser Präsenz und Höchstleistung getrieben hatte – allen Corona-Modalitäten zum Trotz.

Obgleich sich euphorischer Jubel verbietet nach dieser Erzählung, der Applaus in St. Marien war es dennoch. Vielleicht aber auch so lang anhaltend wie nachdenklich, schließlich hatte sich der Schlusschoral nach Es-Dur aufgehellt. Aber mit dem Palmsonntag beginnt die Karwoche, auch „stille Woche“ genannt. Zeit, das Konzert nachklingen zu lassen.

Barbara Kaiser – 11. April 2022

 

 

André Khamasmie und Ansgar Theis

 

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