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95 Thesen – 95 Bilder

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Henning Diers bedachte mit seinen Arbeiten Luthers Diskussionsangebot auch für die Gegenwart/Monumentalbild in St. Petri bis Ende November

Meine Lieblingsthese ist ja die Nummer 86, die, je nach Übertragung, lautet: „Warum baut der Papst, der heute reicher ist als der reichste Crassus, nicht wenigstens die eine Kirche St. Peter lieber von seinem eigenen Geld als dem der armen Gläubigen?“ Im  Heute könnte die Frage lauten: Warum werden Gewinne immer privatisiert und Verluste vergesellschaftet?

Es ist eine interessante Angelegenheit, beschäftigt man sich mit den 95 Thesen, die Martin Luther vor nunmehr 506 Jahren  ans Wittenberger Schlosskirchentor genagelt haben soll. Manchmal wünschte man sich ja auch, er hätte dem Papst lieber um eine private Audienz gebeten oder ihm einen persönlichen Brief geschrieben – Tenor: So geht das nicht weiter mit dem Ablasshandel. Steht auch nicht in der Bibel. Aber da waren wohl die Hierarchien vor. Außerdem taugt Öffentlichkeit für derlei Anliegen immer. So wurde Luther zum Systemsprenger des 16. Jahrhunderts, weil er Bestehendes radikal in Frage stellte.

Über 500 Jahre ist das her und es ist egal, wie man es mit Luther hält. Fürstenknecht und Bauernverräter oder Reformator? Mut brauchte er für diesen Disput-Anstoß auf jeden Fall.

Der Künstler Henning Diers, der sich anlässlich des Jubiläums im Jahr 2017 für lange 95 Wochen mit den 95 Thesen beschäftigte und am Ende aus den Einzelbildern ein beeindruckendes Monumentalbild schuf, ist derzeit in St. Petri zu Gast. Noch den ganzen November wird seine Arbeit zu sehen sein, die auch Dank der Hanns-Lilje-Stiftung ihre Reise nach Uelzen antreten konnte.

Ist man auch ein bisschen größenwahnsinnig, wenn man sich solch ein Werk vornimmt, frage ich Henning Diers. Der bejaht das ohne das kleinste Zögern. Aber er habe sich, als die Jubiläumsvorbereitungen nicht mehr zu überhören waren (es wurde ja eine ganze Luther-Dekade gefeiert!) als Nicht-Theologe gefragt: Was steht da eigentlich drin? In der die Reformation auslösenden Schrift. Manche nennen es auch Kirchenspaltung.

Es geht vorrangig um den Ablasshandel, den Luther verurteilte. Dass man Menschen das Geld aus der Tasche zog mit dem Versprechen, die Zeit im Fegefeuer verkürzen zu können. Nicht nur die eigene, sondern auch die der schon verblichenen Verwandten. Es war ein gewaltiger Marketing-Coup, den man sich da für die Finanzierung der Prachtbauten in Rom ausgedacht hatte.

Henning Diers  hat „also mal reingeschaut“ und sich auf ein Projekt eingelassen, das seinesgleichen suchen mag. In der Zusammenarbeit mit neun Kirchengemeinden entstanden 95 Bilder, 30 mal 90 Zentimeter groß. Dafür wurden die Thesen „abgearbeitet“; ein wöchentlicher Gottesdienst zur jeweiligen These, mögliche Aktualisierung inklusive.

Und weil es dem Künstler „hin und wieder ein Bedürfnis ist, das Bild zu teilen“, steht es jetzt in St. Petri. Rund 26 Quadratmeter Kunst aus Malerei und Collage. Mit zahllosen Anspielungen und versteckten Details. So ist die Arbeit zur oben genannten These 86 ein Lutherporträt – Lukas Cranach nachempfunden; darauf hält uns der Prediger den Spiegel vor, denn was er in der Hand hat ist nicht die Bibel!

Der Maler Diers, der auch gelernter Raumausstatter, genauso jedoch auch Grafiker und Bildhauer ist, stellt die Thesen Luthers in die Zeit des Jahrhunderts von dessen Leben. Er erzählt genauso von Gutenberg oder Paracelsius wie vom böhmischen Reformator Jan Hus, der 100 Jahre vor Luther lebte und seine Standhaftigkeit, das Nicht-Wiederrufen seiner Lehre, auf dem Scheiterhaufen büßte. Katharina kommt vor – natürlich. Und leuchtet oben rechts nicht ein kleiner Regenbogen? Die Fahne der Hoffnung für die aufständischen Bauern? Thomas Müntzer entdeckt man leider nicht.

Leider erfüllte sich die als Scherz gemeinte Anmerkung im Vorfeld, dass der Künstler zu jeder These nur eine Minute reden will. Henning Diers redete sehr lange und ziemlich unstrukturiert und tat sich damit nicht den größten Gefallen. Man schweifte im Publikum sicherlich zu dem Gedanken ab, ob man mit dem großen Monument Werner Tübkes in Bad Frankenhausen nicht besser bedient sei. Aber dorthin müsste man die Reise machen. In St. Petri kann man sich den kleinen Katalog kaufen (unbedingt zu empfehlen) und auf die Zeit einlassen. Und Linien ziehen ins Heute. Denn das will der Künstler. Interessant ist seine Arbeit in all ihren Bestandteilen, von denen einige in den Gottesdiensten entstanden, allemal. Egal, was man von Luther hält. Dessen Zeit war reich an Persönlichkeiten, ohne die der Wittenberger vielleicht nicht geworden wäre, als was er heute gilt. „Die Reformatoren von heute sind die, die mutig gegen den Trend handeln“, sagte Tobias Bilz, der Landesschischof von Sachsen in seiner Radioandacht am heutigen Reformationstag. Vielleicht ist das so. Auf jeden Fall gilt es, sich gegen Dummheit, Ignoranz, Ausgrenzung und Gier in Stellung zu bringen. Ich denke, dass das in Luthers Sinne ist.

Barbara Kaiser – 31. Oktober 2023

 

 

 

 

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