Wie viel an Hoffnung war… – Katerina Poladjan mit ihrem Buch „Zukunftsmusik“ zu Gast bei den „Weingeistern“
Das deutsche Großfeuilleton überbietet sich im vergangenen halben Jahr in der Erregung. Es stellte einen Geßlerhut in den Raum – Ziel, wie schon bei Wilhelm Tell: Die öffentliche Erzwingung untertänigen Verhaltens. Die Gretchenfrage lautet nicht „Wie hast du`s mit der Religion?“, sondern „Wie stehst du zu Putin?“ Man fordert von russischen Künstler*Innen aller Sparten, ein Risiko einzugehen und Haltung zu zeigen – die denen, die sie einfordern, in aller Regel selber fremd ist. Alle sollen sich jetzt öffentlich bekennen, und wehe, einer verbeugt sich nicht folgsam. In Kriegszeiten. Wie verlogen das ist zeigt schon die Tatsache, dass man erst jetzt davon spricht, dass der Krieg seit dem Februar „in Europa“ zurück sei. Wahrscheinlich verorten diese geschichtsvergessenen Leute Jugoslawien in Asien. Und dass Deutschland damals, im Sommer 1999, mit der Nato Bomben warf – ohne UN-Mandat übrigens – ist sowieso verdrängt.
Da ist es doch erfreulich und angenehm zu nennen, dass die Lesereihe „Weingeister“ die (deutsch-)russische Autorin Katerina Poladjan einlud. Weil es richtig ist, was der kurzzeitige PEN-Präsident Deniz Yüzel anmerkte zu so oben genannten viel Eifer: „Wenn wir uns zu solchen Reflexen, zu Pauschalisierungen und Anfeindungen gegen Russinnen und Russen hinreißen lassen, hat der Wahnsinn gesiegt, die Vernunft und Menschlichkeit verloren.“ Er meinte damit vor allem den PEN der Ukraine, der Verlage aufgefordert hatte, sich russischen Autoren zu verweigern. Aber der Feind heißt ja Putin und nicht Puschkin, Tolstoi oder Achmatowa,
Zwar lebt Katerina Poladjan, seit sie als Kind nach Deutschland kam, in Berlin; geboren aber wurde sie im Jahr 1972 in Moskau. Ihr Roman „Zukunftsmusik“ spielt am 11. März 1985 im fernen Sibirien. An diesem Tag erhielt das Riesenreich Sowjetunion in nur drei Jahren den dritten Generalsekretär der KPdSU; nach Jurij Andropow, der nach Leonid Breshnews Tod 1982 zwei Jahre Land und Partei führte, und Konstantin Tschernenko, der es nur auf ein Jahr in dieser Funktion brachte, kam an dem Märztag Michail Gorbatschow an die Macht. Dass das Land mit ihm dem Untergang entgegen marschieren würde, ahnte da noch niemand.
Die Fakten werden im Buch nicht genannt, nur, dass im Radio wieder einmal ein bewusster Trauermarsch von Chopin gespielt wird, was man gewöhnt ist: Es ist wiedermal einer gestorben in Moskau, so die lapidare Bemerkung der Bewohner der „Kommunalka“. In einer Kommunalka, der Wohngemeinschaft mehrere Mietparteien in einer dieser großen, ehemals bourgeoisen Wohnungen, die aber auch ein Bild für den Vielvölkerstaat Sowjetunion ist, verhandeln die nur 185 Seiten einen Tag. Denen stellte die Autorin auf Kyrillisch ein „играем“ voran: Wir spielen.
Das Buch ist Literatur zwischen der fragil-schwebenden Atmosphäre eines Tschechow und dem magischen Surrealismus eines Bulgakow. Manchmal zwischen Traum und Wirklichkeit. Am Ende geschieht scheinbar ein großer Aufbruch, denn Hoffnung ist allemal – aber wohin wird er die Bewohner führen? Da gibt es beispielsweise die junge Janka, die von einer Karriere als Sänger-Songwriterin träumt. Ihre Mutter Maria arbeitet als Aufsicht im Museum und wünscht sich auch mit 45 noch ein persönliches Glück, genauso wie Großmutter Warwara, die noch nicht zu alt für eine heimliche Affäre ist. Diese drei Frauen mit (Ur)Enkelin Kroschka zusammen in einem Raum – man mag es sich nicht vorstellen! Wo kann man da einmal allein sein? Dann gibt den Genossen Matwej, der Maria liebt, sich aber nicht traut, und manchmal auch mit der Gesellschaft hadert, in der er sich aber eingerichtet hat. Genauso wie der Professor und alle die anderen, die sich um die Benutzung des Bads streiten oder sich in der Küche treffen. Und manchmal so kluge Sätze sagen wie: „Dass die Menschen immer noch nicht verstanden haben, dass persönliches Glück ohne Allgemeinwohl nicht möglich ist.“
Katerina Poladjan ist eine wunderbare Menschenbeobachterin und denunziert keine ihrer Figuren. Da ist es schade, dass sie sich in der Diskussion hin und wieder dazu hinreißen lässt, westliche Klischees, die Sowjetunion betreffend, durchaus zu goutieren. Verwunderlich, weil sie Russland ihr Vaterland nennt, Russisch ihre Muttersprache. Denn war diese Sowjetunion nicht einmal eine große Hoffnung für all die Armen, Unterdrückten, Ausgebeuteten? Man kann Geschichte nicht von ihrem Ende her erzählen – da ist man natürlich schlauer. Aber leider wird es viel zu oft ja so gemacht.
Poladjan liebt ihre Figuren, teilt mit ihnen die Verzweiflung, die kleinen Hoffnungen, sie verbeugt sich mit ihrer Heldin Janka, vor der Vergangenheit und hofft so sehr auf eine glückliche Zukunft. Und wenn da einer war, der Glasnost und Perestroika sagte und damit mehr Offenheit und Reformen versprach – warum nicht.
Aber am Ende war Gorbatschow, und das ist nach seinem Tod diese Woche in Nachrufen festzustellen, ein Staatsmann, den seine Aufgaben überforderten und der viel zu naiv und voller Vertrauen in seine westlichen Gesprächspartner die Hand ausstreckte. Der die wirtschaftliche Basis seines Landes statt sie zu stabilisieren geradezu fahrlässig freigab für die heutige Kaste der Oligarchen. Sein größtes Verdienst bleibt, diese Welt, dieses „Gleichgewicht des Schreckens“, für einen Augenblick friedlicher gemacht zu haben mit vielen Worten, konkreten Abrüstungsschritten und auch Verträgen. Heute scheint alles wieder im Chaos zu versinken; Verträge wurden aufgekündigt, man setzt wieder auf militärische Stärke. So gesehen erklingt die „Zukunftsmusik“ eher nach Moll.
Barbara Kaiser – 02. September 2022