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Weihnachtsgeschichte – Wir teilen das Essen

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Zu Weihnachten und weiterhin „Jeden Tag eine gute Tat“

Im Dezember 2003 war ich inzwischen schon acht Monate in Äthiopien. Hier hatte ich mich im Rathaus der äthiopischen Hauptstadt mit der Unterstützung hilfsbereiter Kolleginnen und Kollegen gut eingearbeitet, hatte ein kleines Haus in netter Nachbarschaft gemietet und äthiopisches Personal für den Haushalt und für den Sicherheits-Service eingestellt. Und mein äthiopischer Freund Amsalu fuhr mich morgens und abends in den Rush-hours durch das Verkehrs-Chaos von Addis Abeba zur Arbeit und wieder zurück nach Hause. So gelang es mir mit bester Unterstützung, dass ich mich in der fremden Kultur Äthiopiens, am Horn von Afrika, schnell eingelebt hatte.
Ich staunte, wie die Zeit vergangen war, denn nun war tatsächlich schon die Vorweihnachtszeit gekommen. Zu meiner Freude entdeckte ich, dass es hier im fernen Afrika tatsächlich einige heimatliche Aktivitäten gab, die ich sonst bestimmt vermisst hätte. Am Samstag vor dem ersten Advent fand der große Weihnachtsbasar im Kirchgarten der German Church statt. Von der Lufthansa eingeflogen, gab es Schokoladen-Weihnachtsmänner, Printen, Dominosteine, Marzipan und Stollen und begeistert kaufte ich, was das Herz – fern der Heimat – begehrte. Aber bekanntlich schmeckt es ja alleine längst nicht so gut, und ich freute mich schon aufs Teilen daheim. 

Nachmittags saßen wir zusammen im Wohnzimmer. Die Guards hatten die Gartenarbeit erledigt, das Auto war gewaschen und Almaz, die Haushälterin hatte für uns alle eine traditionelle Kaffeezeremonie vorbereitet. Wie üblich sollte es dazu Popcorn und K’ollo geben. Doch heute, zur Einstimmung auf die Adventszeit, hatte ich das einfach mal zur Seite gestellt und stattdessen die mitgebrachten Süßigkeiten vom Weihnachtsbasar auf die Teller gelegt.
Aber was war das? Niemand wollte mit mir das süße Naschwerk aus Germany teilen!
Fessaha, der Guard, verriet es mir und sagte: „Anne, wir haben doch jetzt Vorweihnachtszeit und da ist hier bei uns in Äthiopien Fastenzeit, 45 Tage lang.“ – Ja, so kann’s kommen. Ich naschte nun etwas enttäuscht alleine von der süßen Schokolade und vom deutschen Weihnachtsstollen. Für Almaz, Amsalu, Alemu und Fessaha legte ich das äthiopische Naschwerk Popcorn und K’ollo wieder auf die Teller.
Und dann? Konnte ich meinen Ohren trauen? Bei allen weiteren adventlichen Klönrunden schwelgte das äthiopische Team und schwärmte von Doro Wot mit Eiern und Tibbs, von Alicha mit Aib und K’ay Wot. Alles äthiopische Fleischgerichte, die es aber erst wieder nach sieben Wochen Fastenzeit, am 7. Januar, zu „Genna“, dem äthiopischen Weihnachtsfest, geben sollte.
Vorsichtig meldete ich mich zu Wort und fragte, was denn mit der Bedeutung der Fastenzeit wäre und fügte lächelnd hinzu, dass es doch verwunderlich sei, wenn sie während des Fastens immerzu vom Schlachten und vom Fleischessen sprechen würden. Betroffen von dieser Nachfrage, überlegten wir zusammen, was besser zu tun sei. Im Gespräch kamen wir schnell auf die Idee, dass wir die Fastenzeit nutzen wollten, um etwas Besonderes zu tun, ganz nach dem Motto: „Jeden Tag eine gute Tat!“ Alle waren begeistert. Und so beschlossen wir, das als Team gemeinsam zu tun. Gesagt – getan! Unsere erste Aktion kam gleich am nächsten Sonntag. Da gab es in Addis Abeba einen „Stadtlauf zugunsten des Zewditu-Hospitals“,  wo eine neue Kinderklinik gebaut werden sollte. Umgehend besorgte Amsalu für uns die Karten und T-Shirts zum Start und wir freuten uns, dass auch noch andere Freunde sponsern und mitlaufen wollten. Am Ende des sportlichen Laufes waren wir alle froh und glücklich, denn diese „erste gute Tat“ hatte uns viel Freude gebracht. 

Was kam als nächstes? Lange brauchten wir nicht zu überlegen, denn wir hatten Besuch und es gab ein Buffet mit vielen verschiedenen Leckereien. Alle Gerichte waren à la „Fasting-food“ zubereitet und es war viel zu viel, sodass wir viele Reste hatten. Almaz packte das Essen sorgfältig in Portionstüten und Amsalu sagte: „Wir bringen es zu den hungrigen Menschen, die bei der Uriel-Kirche betteln und auf Essen warten.“ Als wir dort ankamen meinte er allerdings: „Hier sind alle satt, alle haben was zu essen! Wir fahren weiter, mal sehen, was kommt!“ Mitten in der Stadt, an einer Mauer saßen drei junge Männer. Wir stoppten und vorsichtig fragte Amsalu nach, ob sie Essen haben möchten. Und während sie miteinander sprachen und das Essen dankend annahmen, schaute ich mir die kleine Gruppe an. „Da ist großes Potential auf der Straße“, war mein Eindruck. Das sagte ich später auch Amsalu, der zustimmend nickte, als wir wieder auf dem Heimweg waren. Zuhause war das ganze Team sich schnell einig, dass wir von Zeit zu Zeit bei den jungen Männern vorbeischauen und ihnen Essen bringen sollten. 

Als wir sie an einem der nächsten Abende wieder am selben Platz am Straßenrand trafen und sie mit Essen versorgten, erzählten uns die drei jugendlichen Street People: „Wir teilen das Essen, obwohl wir Christen, Muslime und ohne Religion sind.“ Und dann überreichten sie uns ein selbstgemaltes Bild und bedankten sich, dass wir ihnen das Essen brachten.
Allmählich rückte die Osterzeit immer näher. Das selbstgemalte Bild der Street-Boys hing bei uns in der Küche, und wir waren immer noch sehr berührt davon. Und so beschlossen wir, es zu kopieren und als Ostergrüße zu unseren Verwandten und Freunden nach Deutschland zu schicken. Von den Rückmeldungen aus Germany waren wir total überrascht, denn es entwickelte sich ein besonderer Schriftwechsel mit ungeahnten und nachhaltigen Wirkungen. Neben Briefen folgte auch finanzielle Unterstützungen aus Deutschland.
Dazu, wie nun das Spendengeld sinnvoll verwendet werden sollte, holten wir uns Rat bei Ato Bekele, dem Direktor eines Straßenkinder und -Mütter-Projektes (SSCM). Ato Bekele war der Experte, der uns helfen und hier moderieren konnte. Mit ihm vereinbarten wir eine zwölfmonatige ehrenamtliche Begleitung für die drei Street People. Jeden Mittwoch in der Mittagspause trafen wir uns mit ihnen im Büro von Ato Bekele und besprachen die Probleme und Interessen der drei. Und so kam es, dass die Jugendlichen – mit Amsalus Hilfe – bald eine Wohnung fanden. Die Geldspenden reichten für eine Jahresmiete und für neue Kleidung. Nach und nach bekamen die Street Boys auch Arbeit und allmählich konnten sie den ‚Staub der Straße‘ vergessen und sich gesellschaftlich in der Nachbarschaft und der Arbeitswelt einrichten. Gott sei Dank!

Lul konnte sehr gut zeichnen und malen, was ihm einen Auftrag in der Stadt Nazareth einbrachte. Über sein Kunstwerk wurde sogar im Fernsehen berichtet. Zudem war er sehr musikalisch. Von seinem ersten erarbeiteten Geld hat er sich dann in seiner Heimat, im Norden Äthiopiens, ein Musikgeschäft aufgebaut.
Mekonnen konnte wie ein Architekt zeichnen. Das neue Büro- und Werkstatt-Gebäude von Ato Bekeles Straßenkinder-Projekt wurde nach seinen Entwürfen gebaut. Auch Mekonnen zog bald zurück in seine Heimat, im Osten des Landes.
Yaregal bekam eine Arbeit als Guard im Holland-House, einem internationalen Restaurant, Mitten in Addis Abeba.
Unser kleines privates Sozial-Projekt „Jeden Tag eine gute Tat“ konnten wir – mit finanzieller Unterstützung von Verwandten und Freunden in Deutschland – noch viele Jahre fortsetzen.
Noch heute sind wir dankbar und freuen uns über die gute nachhaltige Wirkung!
[Anne Schorling]

„Wir teilen das Essen, obwohl wir Christen und Muslime und ohne Religion sind“, sagten die Street People und schenkten uns das selbstgemalte Bild.*

*Anmerkung: Christen und Muslime haben unterschiedliche Arten zu schlachten. Das ist der Grund, warum sie das Essen – insbesondere Mahlzeiten mit Fleisch – nicht teilen möchten. Vor diesem Hintergrund gewinnt das Verhalten der Street-People eine besondere Bedeutung. Denn so verstanden bedeutet das Teilen sowohl gemeinsam mit der Notsituation umzugehen und den Hunger zu stillen als auch sich gegenseitig zu respektieren und somit friedlich zusammenzuleben.

Anne Schorling wuchs in Hansen bei Uelzen auf einem Bauernhof auf. Dort lernte sie früh:  „Wer zusammen arbeitet, isst auch zusammen“. Ein Motto, das ihr bei der langjährigen Entwicklungshilfearbeit in Äthiopien stets half, schnell Freundschaften zu knüpfen.
Von 2003 bis 2009 lebte und arbeitete sie als Expertin des Centrums für Internationale Migration und Entwicklung (CIM) in Addis Abeba. Seit 2012 engagiert sie sich als Referentin bei ‚Bildung trifft Entwicklung‘ (BtE) und ‚Engagement global‘ und hält Vorträge zu Themen der deutsch-äthiopischen Beziehung und der internationalen Bildungs- und Entwicklungsarbeit. 

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