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Verfolgt, Verachtet, Vertrieben und Vergessen

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Was ein Stuhl, ein Buch und eine abgeschnittene Haarlocke gemeinsam haben

Das erfuhren interessierte Bürger*innen, die das Uelzener Rathaus zum gemeinsamen Holocaust-Gedenken aufsuchten. Dieses wird jährlich von der Geschichtswerkstatt Uelzen geplant und konnte nun erstmals nach coronabedingter Pause wieder im größeren öffentlichen Rahmen stattfinden. Im Zentrum der Gedenkveranstaltung stand die Bad Bevenserin Anneke de Rudder mit einem Vortrag über ihre Arbeit als Provenienzforscherin.
Seit 2018 ist de Rudder in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (SUB) tätig. Ihre Aufgabe ist es herauszufinden, ob Bestände, welche zu NS-Zeiten in den Besitz der Bibliothek übergegangen sind, rechtmäßig erworben wurden oder als NS-Raubgut einzustufen sind. Hierfür verwendet sie ein Ampelsystem. Grün werden Sammlungsstücke gekennzeichnet, deren Besitzerwerb als unbedenklich eingestuft wird. Was rot markiert wurde, lässt sich eindeutig als NS-Raubgut identifizieren und gelb ist alles, bei dem noch unklar ist, wie rechtmäßig der Erwerb vonstatten ging. Sammlungsstücke, die von der Gestapo aus jüdischen Haushalten beschlagnahmt wurden und direkt in den Besitz der SUB übergingen, stellen eindeutiges NS-Raubgut dar. Aber auch Verkäufe jüdischer Sammler*innen sowie Ankäufe von Antiquariaten und auf Auktionen ersteigerte Bestände müssen genauer geprüft werden. Es gilt folgende Fragen zu klären: Wäre der Gegenstand auch ohne Machtmissbrauch der Nazis verkauft worden? Oder waren die ursprünglichen Eigentümer*innen dazu gezwungen, sich von ihm zu trennen?


Um dieses Rätsel zu lösen, müssen Provenienzforscher*innen „Detektivarbeit“ leisten. Zuerst wird ermittelt, wem das Sammlungsstück ursprünglich gehört hat. Dazu wird nach Stempeln, Widmungen und sonstigen handschriftlichen Einträgen im und am Objekt selbst gesucht. Mit ein bisschen Glück kann so ein vollständiger Name gefunden werden, der auf die ursprünglichen Eigentümer*innen hinweist. Er dient als Ausgangspunkt für Internetrecherchen, um genaueren Aufschluss über die Umstände des Besitzübergangs und den Verbleib der betreffenden Person zu erhalten.
Sollten so keine Spuren gefunden oder die Namen am Gegenstand selbst nicht vollständig ermittelt werden können, kann die Suche in Archiv-Akten sowie in Auktionskatalogen wichtige Hinweise liefern. Innerhalb des Projekts “German Sales“ wurden bereits mehr als 11.500 Auktionskataloge – überwiegend aus dem deutschsprachigen Raum – digital zugänglich gemacht. Dies erleichtert die Arbeit von de Rudder und Provenienzforscher*innen weltweit ungemein.
Wenn sich ein Raubgut-Verdacht durch die angestellten Nachforschungen bestätigt, wird das entsprechende Sammlungsstück in der sogenannten “Lost Art Datenbank“ registriert. Zudem gilt es, rechtmäßige Erb*innen ausfindig zu machen und zu kontaktieren. Die Kontaktaufnahme stellt für de Rudder einen besonders wichtigen Aspekt ihrer Arbeit dar, da hierdurch „better late than never“ Verantwortung übernommen und der Besitz wieder an die Familien ursprünglicher Eigentümer*innen übergehen kann. Darüber hinaus liegt de Rudder das Wieder-Sichtbarmachen von ausgelöschten Biografien und in Vergessenheit geratenen Familiengeschichten besonders am Herzen. „Es ist wie eine kleine ausgestreckte Hand, die wir reichen“. Die Nähe, die dadurch entsteht, bleibt oftmals über das Rückgabeverfahren hinaus erhalten. So steht de Rudder mit den meisten Familien weiterhin in regem Austausch.


Was also haben ein Stuhl, ein Buch und eine abgeschnittene Haarlocke gemein? Alle drei ließen sich als NS-Raubgut identifizieren und waren Schlüssel zu Biografien. So führten fünf Bücher aus der SUB zu dem in Vergessenheit geratenen Patenkind Theodor Fontanes Hans Sternheim und seinen Angehörigen. Die Haarlocke war Teil der sorgfältig behüteten Autografensammlung des Hamburger Kaufmanns Hermann Kiewy. Der Stuhl befand sich zusammen mit weiteren verdächtigen Möbelstücken im Nachlass einer Uelzener Familie. In diesem Fall ging Dietrich Banse von der Geschichtswerkstatt auf die Suche. Er konnte beweisen, dass das Mobiliar mit hoher Wahrscheinlichkeit ursprünglich dem Hausstand von Karl und Josephine Heinemann angehörte.
Auch wenn die Möglichkeiten der Provenienzforschung begrenzt sind und nicht alle Fälle von NS-Raubgut gelöst werden können, birgt sie ein enormes Potenzial. Durch Rückgriffe auf die Herkunft der Dinge können Namen wieder sichtbar gemacht, vergessene Geschichten wieder erzählt und somit Erinnerungen lebendig gehalten werden. Diese lebendige Erinnerungskultur kann maßgeblich dazu beitragen, dass unser Gedenken kein hohles Ritual wird. Umso wichtiger, dass auch wir, um es mit de Rudders Worten zu sagen: „mehr Bewusstsein für die Geschichte hinter den Dingen“ entwickeln und darüber hinaus dafür sorgen, dass auch jüngere Generationen den Bezug zu Geschichte(n) und der damit verbundenen Verantwortung in Gegenwart und Zukunft nicht verlieren. [Carolin Hill]

 

 

Was ist Provenienzforschung?

Der Begriff Provenienz lässt sich von dem lateinischen Verb provenire, „herkommen“, ableiten. Provenienzforschung stellt die Suche nach dem Herkommen von Dingen insbesondere von wertvollen Kunst- und Kulturgütern dar.
Zur heutigen Zeit wird Provenienzforschung vor allem mit Fokus auf unrechtmäßig erworbenes Raubgut betrieben. Hierzu lieferten die Washingtoner Prinzipien, auf welche sich die 44 teilnehmenden Staaten 1998 verständigten, den Startschuss. Sie beinhalten gemeinsam ausformulierte Grundsätze, welche gelten sollen, um von den Nationalsozialisten geraubte Kunst- und Kulturgüter zu identifizieren und diese an ihre rechtmäßigen Besitzer oder deren Nachfahren zurück zu geben.
In Deutschland gibt es ca. 200-300 Provenienzforscher*innen, diese stehen in regem Austausch zueinander. Neben den Rauben aus der NS-Zeit, stehen auch zu Zeiten der DDR oder aufgrund des Kolonialismus unrechtmäßig erworbene Güter im Zentrum der Forschung.

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