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Tradition zum 3. Advent

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Fotos: Barbara Kaiser

Zur Aufführung des Weihnachtsoratoriums in St. Marien 

Klingt das strahlende D-Dur des „Jauchzet, frohlocket“ in diesem Jahr nicht ein bisschen mehr nach Hohn? Und dieses „Friede auf Erden“? Friede auf Erden (Lukas 1, 14), schrieb Dietrich Bonhoeffer, sei kein Problem, sondern „ein mit der Erscheinung Christi selbst gegebenes Gebot.“ Das wäre wunderbar! Seit ich von einem befreundeten Theologen lernte, dass die Übersetzung nicht heißt „Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen“, sondern „Friede auf Erden den Menschen Seines Wohlgefallens“, zweifle ich an dieser Botschaft sowieso. Welche Menschen fallen seit Jahren durch das Raster „Seines Wohlgefallens“? In diesem Jahr sind es auf jedem Fall wieder mehr geworden, und der Krieg im Heiligen Land wird immer grausamer geführt. Versöhnung? Nirgendwo. Nicht einmal ein vager Gedanke an Verständigung, keine Hoffnung, nirgends die Vision, dass Frieden doch gelingen muss!

Die Jahreslosung der Evangelischen Kirche für das Jahr 2024 lautet: „Alles, was ihr tut, geschehe aus Liebe.“(1. Korinther 16,14). Die Liebe sei die Grundhaltung eines christlichen Lebens, predigte Paulus. Nicht nur eines christlichen Lebens, alle großen Weltreligionen verkündigen Ähnliches. Aber wie wurde dieser hehre Satz zuschanden geritten? In der Advents- und Weihnachtszeit tun wir so, als wäre die Welt trotzdem in Ordnung. Vielleicht ist der Mensch so, dass er diese Art der Verdrängung braucht, um nicht zu verzweifeln? 

Auf der Weihnachtsgrußkarte der Woltersburger Mühle schreibt Gerard Minnaard, Pastor und Sozialarbeiter, dass einem das „Frieden“ derzeit im Halse stecken bleibe, es aber deshalb umso wichtiger sei, „dass wir einander im Alltäglichen helfen, Unsicherheiten auszuhalten“ und „einander daran erinnern, das Heute verantwortungsbewusst zu gestalten für uns und die, die nach uns kommen“.

Das durfte oder musste man mitdenken im Konzert zum dritten Advent, mit dem Erik Matz seit 2019 wieder zum traditionellen Weihnachtsoratorium einlud. Nach Jahren der Pandemie, in Zeiten multipler Krisen und des Kriegsgeschreis. Matz hatte jedoch ähnliche Gedanken wie hier beschrieben, denn er sagte vorab: „Ich gehe mit einem sehr guten Gefühl in die Aufführung. Wir hören jeden Tag so schreckliche Nachrichten, sodass das Eintauchen in die Musikwelt von Johann Sebastian Bach der Seele und dem Gemüt gut tut. Vielleicht hören wir in diesem Jahr auch die ein oder andere Passage anders: „Harte Krippen“, „Gefahr und Ungemach“, „Todes Schrecken“. Gespielt wurden die Kantaten 1, 3 und 4. Die St.-Marien-Kantorei und die Solisten Yuna.-Maria Schmidt (Sopran), Nicole Dellabona (Alt), Manuel Günther (Tenor) und Konstantin Heintel (Bass) wurden begleitet vom Orchester Hansebarock Hamburg.

Applaus für die Solisten: Manuel Günther, Nicole Dellabona, Yuna-Maria Schmidt und Konstantin Heintel (von links)

Kantate Nr. 1 war wirklich die zum Versinken. Die Kantorei begann prägnant und entschieden ihr „Jauchzet, frohlocket“. Glockenrein und deutlich artikuliert die Solisten, in bester Übereinkunft mit dem Orchester von Beginn an. Die Geschichte ist ja allbekannt. Erik Matz erzählte sie mit allen Beteiligten zügig, in größtmöglicher Lässigkeit, ohne barocken Brei, in frischer Weise – wie neu. Eine Darbietung, die fröhlich stimmte, ja glücklich machen konnte. Das Orchester präsentierte vorzügliche Holzbläser, das Blech ein Ohrenschmaus genauso wie die Streichersoli. Die Chöre blieben stimmstark und sehr beeindruckend bis zum Schluss; vor allem fielen die weiter konsolidierten Männerstimmen auf. Keine Spur von „matten Gesängen“ also, wie es im Text heißt.

Die 2. Kantate fiel weg, Erik Matz ließ nur kurz den Text anrezitieren: Die Hirten, die Engel und der „Friede auf Erden“ – als drängende Mahnung deklamiert. Das ist eine interessante Lösung. Die Kantaten 3 und 4 sind nicht der laute Jubel, sie sind bedenkender: „Seid froh dieweil, dass euer Heil ist hie ein Gott und Mensch geboren…“ Vor allem fehlten in dieser Aufführung die Texte mit dem wütenden, kriegerischen Anrennen gegen (vermeintliche) Feinde. In der Summe war es ein sehr bewegendes Weihnachtsoratorium, mit einem Orchester, das keine Durststrecke kannte und Solisten, die am Ende nur geringfügig erschöpft schienen von den Bachschen Koloraturen. Die Kantorei aber sang unangefochten standhaft bis zur letzten Note.

Vielleicht gab das Konzert auch den Gedanken mit auf den Weg, wie das stille Fest einer Geburt unter ärmlichsten Bedingungen, nur erleuchtet von einem Stern, durch den Glitzer und lauten Glamour von Konsumtempeln konterkariert werden konnte. Es wäre Zeit, dass wir uns besinnen. Die erfüllende St.-Marien-Aufführung war Anregung.

Barbara Kaiser – 18. Dezember 2023