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Feuilleton

Friedlich? Wirklich? Quo vadis, Coronaprotest? Ein Beispiel – aus Sachsen

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Es war der überhaupt erst zweite Leserbrief, den ich an diese Zeitung schrieb. Als Abiturientin verfasste ich einmal einen ziemlichen Verriss eines neuen Stücks im Stadttheater. Sie hatten den damals sogar in Gänze gedruckt, und ich war stolz wie ein Spanier. (Oder war das jetzt nicht gendergerecht?) Der Anlass für diese Mail an die Redaktion der „Freien Presse“ jedoch war ernster:
„Wie war ich doch erleichtert, als ich in der fernen Lüneburger Heide in einer überregionalen Tageszeitung las, dass 600 Freiberger einen offenen Brief geschrieben haben, in dem sie sich gegen die „Spaziergänger“, die Coronaleugner oder Querdenker, Impfverweigerer oder wie immer sie sich nennen, positionierten. Die abendlichen Rundgänge von „Protestierern“ hatten es ja sogar bis in die Tagesschau geschafft. Sie stellen Sachsen und Freiberg – meine Geburtsstadt! – in ein Licht, das es so nicht verdient. Noch vor ein paar Wochen haben meine Mitschüler und ich ein rundes Abiturjubiläum gefeiert und uns gefreut, wie ansehnlich die Stadt ist, wie gut es sich hier leben lassen könnte, hätte man sich nicht schon anderswo eingerichtet. Ich für meinen Teil wurde vor 25 Jahren nach Niedersachsen geheiratet. Dass mich die Aktionen in der früheren Heimatstadt den Kopf schütteln lassen und auch schmerzen, dass ich derzeit lieber nicht kommuniziere, woher ich eigentlich komme, beschämt mich obendrein. Deshalb Dank an all diejenigen, die sich dagegen stellen.“

Die verantwortliche Redakteurin suchte den Kontakt zu mir, nachdem die Mail eingegangen war, daraus entstanden ist eine Zeitungsseite „Sicht von außen“ auf die Stadt (siehe Bild), ein anderer Wortmelder kam aus Brandenburg. Die Reaktionen in der Leserpost seien nicht nur freundlich gewesen, ließ mich die Kollegin nach Veröffentlichung wissen – wir leben in einer Welt ohne Gewissheiten, und wer klar zu wissen meint, was „die Welt im Innersten zusammenhält“, der hält Anmaßung für Weisheit. Und von eben dieser Anmaßung gibt es derzeit eine übergroße Menge. Jeder habe das Recht auf eine eigene Meinung, auf eigene Fakten aber nicht, sagte Eckart von Hirschhausen dazu ­(„Spiegel“).

Auch in Uelzen marschieren inzwischen diejenigen, die es besser zu wissen glauben. Die entgegen wissenschaftlicher Erkenntnisse meinen, ihr Immunsystem würde es schon alleine richten und es sei ihre ureigene Sache, ob sie sich impfen lassen oder nicht. Die Werte wie Rücksichtnahme, Solidarität gar, für etwas halten, die in unserer kapitalistischen Wohlstandgesellschaft entbehrlich sind. „Impfen ist Nächstenliebe“, predigte sogar ein „Wort zum Sonntag“ vor einem Dreivierteljahr. Dass die bundesweiten Proteste längst von gut vernetzten rechten Kräften unterwandert sind, was man an wortgleichen Parolen und Strategien erkennen kann, scheint die „Gegen-die-Impfdiktatur“-­Demonstranten nicht zu interessieren. Dass berechtigte Proteste oktroyiert sind durch Leute, die nicht gegen die Coronamaß­nahmen auf die Straße gehen und sich deren Rücknahme, zumindest aber Erleichterungen wünschen, sondern durch diejenigen, die Demokratie ins Wanken bringen wollen. Denen die Gelegenheit in der jetzigen Mischung aus Unmut und Unzufriedenheit günstig scheint.

Ja, es ist richtig, die Regierung hat in den letzten zwei Jahren nicht immer eine gute Figur gemacht. Hat die ethischen Hauptaufgaben einer demokratischen Gesellschaft, die Wahrheit zu sagen, Verantwortung zu übernehmen, Schuld zu bekennen, Hoffnungen zu behalten, Versuchungen zu widerstehen, Halt zu suchen und Gewissen zu schärfen, nicht immer konsequent auf die Tagesordnung gesetzt. Verbote lassen sich schneller erlassen. Aber war diese Situation nicht für alle überraschend und neu? Vielleicht sollten wir Bürger anerkennen, dass sich unsere Politiker auch inzwischen zu korrigieren in der Lage sind? Und wer sich über die Impfpflicht erregt darf nicht vergessen, dass eine Pflicht eine Verpflichtung ist. Auch auf moralischer Ebene. Im Falle von Corona steht das Wohl der Allgemeinheit über dem Recht auf Unversehrtheit des Einzelnen. Und ein „Impfzwang“ wäre verfassungsrechtlich sowieso nicht möglich.
Nebenbei: In Deutschland wurde eine Impfpflicht Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt. Gegen die Pocken. Die sind erfolgreich ausgerottet. Hat sich einer mokiert, als die Schluckimpfung gegen die Kinderlähmung auf der Tagesordnung stand? Gab es Proteste, als die Reihenuntersuchungen gegen die Tuberkulose ihre Einladungskarten verschickten?

Die Masernimpfung ist erst kürzlich Pflicht geworden, sonst darf das Kind eben nicht in die Kita. Das alles ging ohne großen Aufschrei über die Bühne. Warum also jetzt Aufmärsche gegen Maßnahmen, die geboten sind? Man kann einwenden, eine Impfung rotte den Covid-Virus sowieso nicht aus, so wie bei den Pocken. Das stimmt. Aber trotzdem ist sie bis jetzt noch das beste Mittel, ein gesellschaftliches Miteinander, das sowieso schon schwer gestört ist, einigermaßen aufrecht zu erhalten.
Als vor rund einem Jahr der Verbund „Ärzte stehen auf“ in einem offenen Brief an Angela Merkel die „sofortige Aufhebung aller Corona-Maßnahmen“ forderte, hagelte es Kritik. Kurz darauf fand auch der Präsident von Sachsens Ärztekammer deutliche Worte für solche Gruppen. Coronaleugner, Maskenverweigerer und Lockdown-Gegner seien unter Ärzten eine absolute Minderheit, leider eine sehr laute, kommentierte er. Seien Kollegen „fortgesetzt, bewusst und aktiv“ in dieser Richtung unterwegs, müsse er „an der Eignung für den Beruf zweifeln“, sagte der Ärztekammerpräsident damals dem MDR. Aber jüngst versandte diese Gruppe – mit zum Teil anderen Unterzeichnern – erneut einen offenen Brief. Diesmal an Bundeskanzler Olaf Scholz und die Abgeordneten des Bundestages. Einer der Unterzeichner dieses neuen Ärztebriefes ist beispielsweise Sucharit Bhakdi. Der bekam 2020 den Preis für den „größten antiwissenschaftlichen Unfug des Jahres“, das „Goldene Brett“, was eine ähnlich unbeliebte „Ehrung“ ist wie der Goldene Windbeutel oder der Dinosaurier des Jahres. Muss man da nicht darüber nachdenken, wie es um die Kompetenz dieser Mediziner steht? Oder wo (wie weit rechts) sie politisch stehen?

Zentrum der Bewegung“ (man beachte die historische Parallele!) ernannt wurde, hatte sich bereits im Jahr 2019 eine Gegenbewegung etabliert. Unter dem Namen „Freiberg für alle“ gibt diese auch ein sehr sehens- und lesenswertes Magazin – ähnlich unserem – heraus. Nun schlossen sich die Reihen noch einmal, weil sie die Stadt nicht zum „Abenteuerspielplatz“ für Querdenker und Rechtsextreme machen lassen wollen. Nach einigem Zögern fand auch der Bürgermeister endlich deutliche Worte, nachdem einer seiner Stellvertreter in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Situation der willentlich Ungeimpften mit der der Armenier in der Türkei verglichen hatte.

Das Goldenen Brett (vorm Kopf)

Einem Rücktritt verweigert sich der CDU-Politiker bis heute, eine Abwahl verfehlte die nötige Zweidrittelmehrheit im Stadtrat. Überhaupt sind die historischen Vergleiche der „Spaziergänger“ eher haarsträubend und absurd, besonders erschreckend, wenn sie Vergleiche mit der NS-Zeit herstellen. So nannte einer der Organisatoren aus Tübingen die Impfärzte schlimmer als Josef Mengele, den SS-Auschwitz-Arzt und Kriegsverbrecher. Man hatte auch Vergleiche mit Anne Frank und Sophie Scholl zur Hand, und über den Freiberger Vizebürgermeister wurde hier schon gesprochen.

Die Stadt Freiberg und die Montan-Region Erzgebirge sind seit ein paar Jahren Weltkulturerbe, worauf man sehr stolz ist dort. Inzwischen haben es die Vorkommnisse geschafft, dass es im touristischen Sektor Stornierungen – Zitat – „in Größenordnungen“ gibt. Das muss beunruhigen und tut auch mir weh, obgleich ich schon seit einigen Jahrzehnten nicht mehr dort lebe. Es gibt gute Gründe dafür, die zu „Spaziergängern“ umgedichteten Demonstranten, die Polizeisperren durchbrechen, Kinder als Schutzschild missbrauchen, Beamte schubsen und nach Dienstwaffen greifen, nicht für die friedfertigen Streiter der Grundrechte aller zu halten, als die sich gerne darstellen. Weil sie es nicht sind, wenn sie in Chatgruppen längst von „Bürgerkrieg“ sprechen und eine Liste führen mit den Namen derer, denen sie ans Leben wollen am Tag X. – Man sollte sich also überlegen, mit wem man spaziert. Am Schluss noch einmal Eckart von Hirschhausen, auch wenn dieser Satz ein klitzekleines bisschen gemein ist: „Menschen, die glauben, dass die Impfung das Erbgut verändert, sollten das als Chance begreifen.“

[Barbara Kaiser]