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Malerin Simona Staehr befasst sich mit Familiengeschichte – aber nicht nur

Es ist an der Zeit – wieder einmal – an dieser Stelle den ersten Satz aus Thomas Manns Trilogie „Joseph und seine Brüder“ zu zitieren, der da lautet: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ Weiter schreibt der Dichter, dass die Schnur des Senkbleis unseres Forscherdrangs immer ins Bodenlose zu entschwinden scheint und das Unerforschliche mit uns ein „foppendes Spiel“ betreibe. Es bietet „Scheinhalte und Wegesziele, hinter denen, wenn sie erreicht sind, neue Vergangenheitsstrecken sich auftun.“

Simona Staehr

So ähnlich mag es der Malerin Simona Staehr ergangen sein, als sie ein lange gärendes Thema künstlerisch umzusetzen versuchte. Sie nahm sich der alten Geschichte der Flucht an. Die geraunt wurde am Familienfeier-Kaffeetisch, über die aber ansonsten geschwiegen wurde.

Nun haben ja nicht nur die Deutschen eine Fluchtgeschichte. Die großen Völkerwanderungen ergeben Epen, füllen Bände. In der Gegenwart sind weltweit mehr als 21 Millionen Menschen auf der Flucht (2021), das zu Ende gehende Jahr dürfte diese Statistik gemehrt haben. (Und es ist keineswegs immer so, dass alle Flüchtlinge mit Bussen und Zügen abgeholt werden.)

Es ist Simona Staehr hoch anzurechnen, dass der Auslöser für ihre neue Bilder-Reihe der Krieg in Syrien war (2011), und dass die vielen verzweifelten Menschen, die 2015 nach einem unwägbaren und gefährlichen Weg in Europa strandeten, sie umtreiben. Sie habe sogar an die Flucht von Maria gedacht, bekennt sie. Simona Staehr denkt historisch und nicht mit Scheuklappen und manchmal würde man dabei auch verrückt, sagt sie. So viel Leid, keine Vernunft, kein Frieden in Sicht…

Die Bilder, die ab Samstag, 24. September 2022, in der BBK-Galerie Oldenstadt zu sehen sein werden (Vernissage 17 Uhr), beschäftigen sich mit ihrer Familiengeschichte. Staehr ist Jahrgang 1961 – sie gibt zu, „ nur Erinnerungsfetzen“ im Gedächtnis zu haben von den genannten Gesprächen. Sie möchte ihre Bilder auch mehr als ein soziokulturelles Projekt sehen, wo man angesichts der Kunst ins Gespräch kommt, Gedanken austauscht, sich mancher Gefühle versichert, Einschätzungen teilt.

Die Künstlerin hat sich des Themas angenommen in dem Bewusstsein, dass es ihrer Generation so gut geht wie keiner vorher (und wahrscheinlich auch keiner wieder danach). Sie möchte zurückblicken und erinnern, dass es nie Selbstverständlichkeit ist, sicher und in Frieden aufzuwachsen, zu arbeiten, zu leben.

Sie wünscht sich von ihrer Ausstellung, dass es den Betrachtern der Bilder so ähnlich ergeht wie vor einem Caspar-David-Friedrich-Bild. Der große Romantiker hat immer eine Figur integriert, die uns den Rücken zuwendet, so, als blickten wir selber auf die Szene.

Was sehen wir nun auf Simona Staehrs Arbeiten? Das beeindruckendste ist ein kleines Format. Darauf ein Mädchen, das sich mehr schleppt als geht; die Fußabdrücke verraten, sie geht durch Schnee und Eis. Das Pikante: Sie trägt ein gestreiftes Mäntelchen, viel zu kurz, viel zu wenig Schutz für einen harten Winter. Der Winter 1944/45 war ungewöhnlich hart, sagen die meteorologischen Fakten. Und das Mädchen erinnert auch, ob beabsichtigt oder nicht, an die zahllosen Todesmärsche, auf denen die SS die Insassen der Konzentrationslager nach Westen – vor der Front her – trieben. Tausende fanden dabei den Tod.

Die Deutschen sind ja oft der Meinung, sie seien mit ihrer Fluchtgeschichte die größten Opfer. Warum bedenken sie nicht zuerst, dass die Ereignisse bis zum 8. Mai 1945 einen Anfang hatten, der da lautet: Deutschland hat in seinem Größenwahn den II. Weltkrieg am 1. September 1939 begonnen mit dem Ziel, andere Völker zu unterwerfen und/oder auszulöschen, damit das „Volk ohne Raum“ endlich auch Zugang zu fruchtbaren Gebieten und auszubeutenden Bodenschätzen hat. Schließlich war man schon bei der ersten Aufteilung der Welt in Kolonien zu spät gekommen, weil das mit dem einheitlichen Nationalstaat Deutschland lange gedauert hatte.

Über diese Fakten sollte man nachdenken vor Simona Staehrs Bildern. Die Künstlerin verweigert Auskünfte dazu, weil sie den Betrachter nicht in eine bestimmte Richtung beeinflussen will… Die Großformate lassen zahllose Deutungen zu. Sie sind collageartige Arbeiten, in denen die Künstlerin Ausschnitte aus alten Werken in die neuen integriert. Eine Interpretation bleibt schwierig. Aber: „Ich finde, dass die Kunst Interaktion und Kommunikation leisten muss“, ist sich die Malerin sicher. Und vielleicht kommt es in der Galerie zu fruchtbaren Gesprächen, die einen Zugang zu den Bildern ermöglichen und Erkenntnisgewinn versprechen.

Geöffnet ist der Ausstellungsraum nach der Vernissage an den Sonntagen 25. September, 02. und 09. Oktober, jeweils von 11 bis 17 Uhr. Und nach Vereinbarung. Mail: simona-staehr@web.de

Barbara Kaiser – 20. September 2022