Von der Gedenkstätte Hadamar erhält der Neffe bald fundierte Angaben. Oskar Pohlmann ist am 22. April 1941 von der Anstalt Lüneburg in die Zwischenanstalt Herborn verlegt worden. Zwischenanstalten sind Wartesäle des Todes. Die hier Untergebrachten sind wenige Monate zuvor von ärztlichen »Gutachtern« anhand von »Meldebögen« als »Lebensunwerte« und »unnütze Esser« zur »Ausmerze« preisgegeben worden. Am 21. Mai 1941 wird Oskar Pohlmann mit 90 weiteren Lüneburger Patienten in die „Heilanstalt“ Hadamar transportiert. Noch am gleichen Tag wird die ganze Gruppe in der Gaskammer im Keller durch Kohlenmonoxid erstickt. Anschließend werden die Ermordeten in Krematoriumsöfen im Keller verbrannt. In 24 Stunden werden lebende Menschen zu Asche verarbeitetet.
Der Grund für den Anstaltsaufenthalt wird erst aus der Krankenakte (Bundesarchiv Berlin) klar. Völlig überraschend erfährt der Neffe von der depressiven Erkrankung seines Onkels. Darüber ist in der Familie kein Wort verloren worden. Noch mehr erschüttert es den Mittsiebziger, dass sein Vater, der Ehemann seiner Schwester Alma (Heirat 1932), seinen Onkel in die Anstalt eingeliefert hat. Erst aus den Unterlagen wird deutlich, dass Oskar Pohlmann eine homosexuelle Veranlagung hatte. Nach 1933 muss es in der Familie zu erheblichen Auseinandersetzungen gekommen sein, denn Oskar Pohlmanns Schwager ist überzeugter Nationalsozialist, Träger des Goldenen Parteiabzeichens. Für Nazis sind Homosexuelle der Abschaum der Menschheit. Der musikalisch begabte Oskar Pohlmann ist den Anfeindungen nicht gewachsen und wird sogar aus einer SS-Kapelle als Klarinettist ausgeschlossen. Seine depressive Erkrankung wird von den NS-Anstaltspsychiatern als Schizophrenie, eine Erbkrankheit, gedeutet. Ende Juni 1934 wird er nach der Zwangssterilisation als »Unfruchtbargemachter« aus der Anstalt entlassen. Nach wenigen Monaten kommt es zu erneuten familiären Spannungen.
Anfang 1936 wird Oskar Pohlmann wiederum von seinem nationalsozialistischen Schwager in die Lüneburger Anstalt geschleppt. Er verbleibt als Dauerpatient in der Pflegeanstalt. Ab Ende Juli 1940 verweigert Oskar Pohlmann die Arbeitstherapie. Nach mehr als fünf Jahren Anstaltsaufenthalt und Arbeitsverweigerer wird man von den „ärztlichen“ Gutachtern als »unheilbar« deklariert. Am 22. April 1941 gibt es eine letzte ärztliche „Visite“: »Ungeheilt nach Herborn«. Ein Todesurteil. Noch am gleichen Tag wird der 37-Jährige in einem Sammeltransport (121 Männer) nach Herborn verlegt. Nur zwei Männer entkommen in Hadamar durch Zufall der Vernichtung.
[Dieter Thiel]