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Feuilleton

Klassentreffen – Eine Rede an meine ehemaligen MitschülerInnen

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Wie lange ist Ihr letztes Klassentreffen her, liebe Leserinnen und Leser? Und fand es statt anlässlich eines Jubiläums? Neulich war ein Foto in der AZ, das eine Truppe „Goldener Abiturienten“ zeigte. Ach ja, dachte ich, alles alte Leute. Sehr kühn und leichtfertig und vielleicht auch ziemlich anmaßend – denn ich hatte mit meinen Mitschülerinnen und Mitschülern in diesem Monat auch ein halbes Jahrhundert Abitur zu feiern! Das war einfach so unglaublich wie es tatsächlich Realität ist.

Hält man die Einladung für die Feierlichkeit in den Händen, setzt sich ja ein Denkprozess in Gang, der Dinge aus der Versenkung des Gedächtnisses holt, die man nicht für möglich hielte. Und so entstand diese Rede an die rund 125 Schüler unserer Klassenstufe, die im Jahr 1971 das Abiturzeugnis ausgehändigt bekamen:

Nach der Zusage für ein paar Worte fiel mir ein, dass ich schon einmal in dieser Aula am Rednerpult gestanden habe mit einer Ansprache. Vor reichlich 50 Jahren. Die Worte damals waren leider nicht von mir, sondern von Hermann Kant. Anlässlich einer Feier zum 7. Oktober (Republikgeburtstag) durfte ich die Geschichte von Jakob Filter aus dem Roman „Die Aula“ lesen. Ihr wisst schon: Von dem Waldarbeiter Jakob Filter, der Löffel mit einem f schrieb, aber trotzdem zum Abitur delegiert wurde. Weil so eine Delegierung eine gefährliche Sache ist, man kein Argument dagegen haben konnte oder durfte, wurde er nach harter Arbeit am Ende Hauptabteilungsleiter im Ministerium für Wald- und Forstwirtschaft.

Ich habe diese Jakob-Filter-Geschichte immer auch ein bisschen als meine angesehen. Ich hatte Löffel zwar nie mit nur einem f geschrieben – aber ich war ein Arbeiterkind. Das hat mir allerdings an keiner Stelle einer aufs Butterbrot geschmiert, weil es eben bei uns keine Rolle spielte. Trotzdem habe ich es nicht vergessen, dass es eben keine Rolle spielte, wer deine Eltern sind.

Nebenbei: Mein Mann ist in Salzgitter geboren und zur Schule gegangen. Er hat kurz vorm Abitur hingeschmissen, obwohl er gerne Chemie studiert hätte, weil er sich eben immer mal angehört hat, auch von Lehrern, dass er doch am Gymnasium eigentlich nichts zu suchen habe. Sein Vater arbeitete in der Hütte Salzgitter. – Inzwischen gibt es übrigens an unseren Hochschulen Netzwerke für Arbeiterkinder, damit die sich durch den Dschungel Universität finden. Ist das nicht unglaublich?

Nach 50 Jahren also stehe ich wieder hier. Natürlich gibt es da zuerst Dank zu sagen. Denjenigen, die es ermöglichen, dass wir uns in diesem Rahmen an das Abitur erinnern dürfen. An einen Tag, „wo man doch immer eine Art neuen Daseins beginnt“ – wie Johann Wolfgang Goethe im September 1819 an sein 85-jähriges Tantchen mütterlicherseits, Johanna Maria Melber, schrieb. Für welchen Anlass, wissen wir nicht; Geburtstag hatte die Dame im Februar.

Es waren wirklich sehr andere Zeiten, als wir im Jahr 1971 das letzte Mal als Schüler dieses Haus betraten. Oder hätten wir gedacht, dass die Welt eine Rolle rückwärts macht? Damals schien Aufbruch möglich, die Welt zu einer besseren zu gestalten! Ich erinnere mich an eine Unterrichtsstunde, da redete Wolfgang W. über den Sieg von Salvator Allende in Chile und dass auch auf diesem Wege, nämlich durch Wahlen, eine Veränderung von Gesellschaft möglich ist. Zwei Jahre später, am 11. September 1973, war dieser Traum ausgeträumt. Bei den kurz davor stattfindenden 10. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin hatten chilenische Musikgruppen noch großen Beifall erhalten für ihren künstlerischen Beitrag in der Bewegung der Unidad Popular. Vier Wochen später wurde die Moneda, der Regierungspalast in Chile, beschossen. Allende war tot.

Ich weiß nicht, wie Ihr das erlebt oder empfunden habt: In diesen 1970er Jahren war die DDR weltoffen und liberal wie nicht davor und nie wieder danach. Die internationale Anerkennungswelle unseres kleinen Staates rollte in so einer Geschwindigkeit, dass man nicht wusste, woher so schnell die vielen Botschafter nehmen! Wir waren damals Studenten. Aber immer wenn ich an die vier Jahre EOS (Gymnasium) denke, denke ich mit Dankbarkeit vor allem an Frau Dr. Bachmann, die mir die Liebe zur Klassischen Deutschen Literatur ganz tief eingepflanzt hat. Zudem glaube ich, auch Herrn Kempe, dem Mathelehrer, dankbar sein zu müssen. Meine Vermutung war immer, dass er mir das mündliche Abitur in seinem Fach ersparte, weil er wusste, ich würde durchfallen. Nach meiner Annahme kann ich in der schriftlichen Prüfung unmöglich die Vornote Drei bestätigt haben, hätte also ins Mündliche gemusst. Ich musste nicht.

Wer Russisch bei Eulalia Basler hatte, weiß auch, was es heißt, sich vor einem Fach zu fürchten. Dabei ist eine Fremdsprache eine Fleißsache, aber daran hat es eben manchmal gehapert. Bestimmt nicht nur bei mir! Aber wenn ich heute unseren russischen Freunden – mein Mann und ich sind mit einem russischen Ehepaar befreundet – in ihrer Muttersprache zum Geburtstag oder zum Tag des Sieges, dem 9. Mai, gratulieren kann und merke, wie sie sich freuen, dann danke ich Eulalia von ganzem Herzen, dass sie uns so getriezt hat. Und manchmal hole ich sogar das Wörterbuch raus, weil es Spaß macht.

Außerdem war ich in der 9. Klasse hoffnungslos in den Musiklehrer Wolfgang Ulbricht verliebt. Ich hoffe, er hat es nicht gemerkt und ich war nicht peinlich. Obwohl: Der Mann war damals geschieden…

Nach der 12. Klasse war eine Gruppe Schüler auf Rügen zelten. Die Erinnerung: Ich lag mit meiner Freundin Gitti abends im Zelt, und wir sinnierten darüber, was die Zukunft wohl für uns bereithielte. Es fehlte uns wohl aber an Fantasie, denn schon die Vorstellung, dass wir im Jahr 2000 unglaubliche 47 Jahre sein sollten, verschlug uns alle weiteren Erörterungen.

Jetzt sind wir nochmal 20 Jahre älter. Wir haben einen Staat untergehen sehen und haben versucht, in dem größeren Deutschland anzukommen. In der Hälfte des Lebens hatten wir beinahe den Boden unter den Füßen verloren, weil nichts mehr galt, was bis dahin unser Leben gewesen war. Und wenn es ganz schlimm kam, hatte man sich noch zu rechtfertigen für sein Tun bis dahin.

Ich weiß nicht, wie schwer Euch die Jahre 1989/90 geworden sind. Wer gehörte zu den Freiheit- Rufern? Damit ich dieses Wort „Freiheit“ hier endlich auch einmal untergebracht habe. Ich mag es nicht, denn die „Freiheit der Andersdenkenden“, um mit Rosa Luxemburg zu reden – wo ist die abgeblieben? Die sie damals, 1988 im Januar, den Protestierern nicht zu gewähren bereit waren, werden heute selber nicht gehört. Ich bin ja der Meinung, dass es Freiheit nicht gibt, denn auch auf einer einsamen Insel kann man nicht vor lauter Freiheit in der Hängematte liegen bleiben, will man nicht verhungern. Aber es ist ja ein Wort mit Inflationswert.

Haben die Freiheits-Rufer also das bekommen, was sie sich erhofften? Wer von uns hatte eher Angst vor dem Kommenden? Und hier muss man die Frage stellen: Hat uns das Abitur auf das Leben vorbereitet, darauf, dass wir bestehen konnten auch nach der Wende?

Ich bin der Meinung: Fachlich haben wir uns nicht zu verstecken! Ich lebe ja seit 25 Jahren in Niedersachsen, wohin ich geheiratet wurde im Jahr 1995. Eine andere Art der Vereinigungsbeute sozusagen. Und ich mag jetzt nicht zu eitel erscheinen, aber mit meiner journalistischen Arbeit habe ich mir im Bereich Feuilleton eine gute Reputation erarbeitet. Früher habe ich manchmal gesagt: Ich hab zwar nur ein DDR-Abitur, aber lesen und schreiben können wir auch. Ich bin mir nicht sicher, ob die Leute den Sarkasmus immer verstanden haben. Ist auch egal.

Nun ist das also 50 Jahre her, dass wir unsere Zeugnisse in der Hand hielten und uns fragten, wie wird es weitergehen? Siehe Goethe: „Wo man doch immer eine Art neuen Daseins beginnt“. Am Schluss will ich nicht Goethe, sondern Wilhelm von Humboldt zitieren: „Wie wenig ist am Ende der Lebensbahn daran gelegen, was wir erlebten, und wie unendlich viel, was wir daraus machten.“ Ich glaube, auch wenn unsere Lebensbahn noch nicht ganz am Ende ist: Wir haben eine Menge aus dem gemacht, was wir erlebten. Auch dank einer soliden Ausbildung, deren erster großer Abschluss vor einem halben Jahrhundert hier in diesen Mauern vollzogen wurde.

Barbara Kaiser – im Oktober 2021