Die Hälfte des Lebens verborgen
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Foto: Barbara Kaiser
Tilmann Lahme stellte seine beeindruckende Thomas-Mann-Biografie in der „Weingeister“-Lesung vor
Da spricht und liest einer mehr als 90 Minuten lang mit nur ganz kleinem Konzeptblatt und man merkt: er brennt für sein Forschungssubjekt. Er balanciert wie ein Hochseilartist auf dem Grat zwischen bedingungslos-blinder Anbetung und der nötigen Distanz, um empathisch, aber möglichst objektiv bleiben zu können. Er plaudert und erzählt, sachlich, wo es pikant wird, sympathisch, wo er die Zuhörer:innen gewinnen will. Aber eigentlich braucht`s dieser Versuche nicht, denn Tilmann Lahme ist ein Autor, dem man mit der gleichen Begeisterung folgt, wie der über Thomas Mann redet und schreibt. Im Rahmen der „Weingeister“-Lesung der Werner-Bergengruen-Gesellschaft war der Lüneburger Literaturwissenschaftler zu Gast und bescherte den vielen Gästen im Neuen Schauspielhaus einen Abend, der Feuer sprühte. Der Anregung war und für eine lange Weile unvergesslich bleiben wird.
Noch ist Thomas-Mann-Jahr. 150. Geburtstag (6. Juni) und 70. Todestag (12. August). Ist es wirklich schon wieder so lange her? Ich schaue auf meine zehnbändige Jubiläumsausgabe des Aufbau-Verlags zum 100. Geburtstag aus dem Jahr 1975, die für Studenten ein Vermögen von 150 Mark der DDR kostete! Und wenn das weiße Leinen und die Goldprägung mit den Initialen Manns ein wenig abgegriffen sind, zeugt das doch vom Gebrauch dieser Literatur, bei der viele gleich abwinken. Sätze über ein halbe Seite – wer will das denn in Zeiten von WhatsApp? Und trotzdem ist Thomas Mann immer einer, der es auf den Punkt bringt. So lässt er in „Lotte in Weimar“ den Hausdiener Mager des Hotels „Elephant“ sagen: „Bei uns in Weimar gibt es dergleichen wie weite Wege nicht; unsere Größe beruht im Geistigen“ und umreißt damit das ganze Selbstverständnis dieser Stadt. Gut, das war vor Buchenwald geschrieben, aber eigentlich stimmt es bis heute. Ich darf das sagen, ich habe dort gewohnt.
Nun also der 150. Geburtstag des großen Dichters, Literaturnobelpreisträgers, Ehemanns und in Wahrheit doch auch und vor allem (?) gepeinigter Mensch. Was früher dezent hinter literaturwissenschaftlichen Aussagen wie „homoerotische Neigungen“, die er „in seinem Werk sublimierte“ versteckt wurde, untersucht Tilmann Lahme genauer. Denn wir wollen doch alle wissen, was eigentlich in den eckigen Klammern der Auslassungen der Tagebücher stand. – Es war vor 150 Jahren nicht einfach, homosexuell zu sein. Wenn man denn überhaupt erkannte, was mit einem „nicht stimmt“. Manche Fußballer kriegen es bis heute nicht hin, sich zu outen, weil eine toxische Männergesellschaft in diesem Sport das verbietet und die Fanszene es wohl so will.
Es sei hier versichert, dass Tilmann Lahme so wie er spricht auch schreibt; unnachahmlich locker, auf kundige Weise, ohne zu diskreditieren oder gar lächerlich zu machen. Er versucht zu verstehen und nachzuvollziehen, woher damals junge Männer ihr Wissen schöpften, das ihnen einredete, sie seien degeneriert und überhaupt sehr krank. Eine Therapie sei aber möglich, wenn eine gewisse Neigung zum weiblichen Geschlecht erhalten geblieben sei. – Und wenn man der berühmteste Dichter seiner Zeit werden will, darf man kein Außenseiter sein, so geht Thomas Mann zum Psychiater und auf Freiersfüßen und seine Versuche der Annäherung darf man ziemlich brachial nennen. Am Ende schafft er es, eine der ersten Abiturientinnen Münchens und die Mathematikstudentin Katia Pringsheim (1883 – 1980) für sich zu gewinnen. Schließlich war er der Autor der „Buddenbrooks“. Im Jahr 1905 wird geheiratet.

Tilmann Lahme, Foto: Barbara Kaiser
Wie groß war das Martyrium dieses Schriftstellers, der den Knaben und jungen Männern mehr zugetan ist als der schönsten Frau? Immer in der Hoffnung auf „Heilung“ gab er seinem Leben ein Korsett. Die Sexualität sei für Thomas Mann, so Tilmann Lahme, immer „ein feindliches Tier gewesen, gegen das er sich wehrte.“ Zur Not auch mit Tabletten. Vielleicht sehen wir den Dichter nach dieser Biografie mit anderen Augen? Die Entschlossenheit und die Disziplin, dieses Leben als Ehemann mit Ehefrau und sechs Kindern zu leben, übersteigt eigentlich alle Kräfte. Er habe sich seine Homosexualität versagt, sie aber in der Literatur aufleben lassen, ist sich Tilmann Lahme sicher. Und wenn Thomas Mann am Ende seiner 80 Lebensjahre schreibt, „es kenne mich die Welt erst“, wenn alle tot sind, wenn alles offenliegt, dann war das vielleicht auch Hoffnung, dass man ihm so manches nachsehe? Seine Distanziertheit, seine übermäßige Akribie in allen Formulierungen, seine Ausführlichkeit und manchmal auch Kompliziertheit.
Er habe die Literatur seinen Leiden abgetrotzt, sagt Lahme. Wenn man sich einlässt auf die Zeit und die Lebensumstände des Schriftstellers, verzeiht man ihm wohl auch so manche Selbstüberhebung. Sein Leben war eher Verbergen denn Vorzeigen. Die Liebhaber seiner Geschichten, die immer auch von ihm erzählen, denken das schon lange als Subtext mit. Dank Tilmann Lahmes neuer Biografie wissen wir es noch ein bisschen besser. Ob uns das was angeht? Diese Frage stellt sich der Biograf selber. Aber unsere Welt ist nun mal voyeuristisch.
Barbara Kaiser – 27. August 2025