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Aktuelles Feuilleton

„Brillen fürs Leben“

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Zum Welttag des Buches am 23. April

Seit dem Jahr 1995, seit die UNESCO beschloss, dass Bücher nicht wegzudenken sind – aus keinem  Leben -, ist der 23. April „Welttag des Buches“. Ausgesucht hat man sich dieses Datum, weil es Shakespeares Geburtstag sein kann – getauft am 26. April -, es ist aber wohl auch sein Sterbetag. Und der von Cervantes ebenso. Ob nun fußend auf 1564 oder 1616 ist aber ziemlich egal.

Für mich persönlich war der „Tag des Buches“ immer der 10. Mai. Begangen in der DDR, lange vor 1995, gedenkend der faschistischen Barbarei, die an diesem Tag des Jahres 1933 einen Scheiterhaufen aus Literatur errichtete und grölend damit fütterte, was zum Besten menschlichen Gedankenguts gehörte bis dahin.

Hauptsache bleibt aber, dass auch heute Bücher „Brillen fürs Leben“ sind, wie es der Philosoph Ludwig Feuerbach sah. Wenn man denn bereit ist, sie sich aufzusetzen, Blickwinkel mal zu verändern, Erkenntnisgewinn lesend zu erfahren. –

„Ist es die Wahrheit?“, fragte der Verleger Charlotte. Die erwiderte: „ Es ist mehr als die Wahrheit. Es ist Dichtung.“ Der hier beschriebene Dialog ist einer aus dem zauberhaften Film „Goethe!“, in dem zwar kaum ein Fakt im Zusammenhang stimmt, der aber voller Leichtigkeit und in vielen Anspielungen mit dem Lebenslauf des Dichterjünglings jongliert.

„Es ist mehr als die Wahrheit. Es ist Dichtung.“  Eine wunderschöne Feststellung, finden Sie nicht? So liest es sich zwar schon beim Philosophen Georg Simmel, der Literatur „Mehr-Leben“ nannte, schön bleibt der Vergleich dennoch.

Vor mehr als zehn Jahren bin ich der Anregung des damaligen AZ-Chefredakteurs, Marc Rath, gefolgt und habe mich mit der Reihe „Lesen!“ auf die Spur der Lektüre von 23 Bewohnern dieses Landkreises begeben. Ich habe vor riesigen Bücherwänden gestanden und so manche Anregung erfahren. Es ging um Literatur, genauer gesagt um das, was zwischen zwei Buchdeckeln versammelt wurde und was es dem einzelnen Menschen bedeutet. Bedeuten kann.

Ich hatte die Leute befragt, wie sie zum Lesen kamen. Ob sie überhaupt lesen (müssen). Was ihnen Bücher sind. Ich habe einen Blick in ihre Bestände geworfen, nach ihrer liebsten Lektüre Ausschau gehalten und mit ihnen über erste Leseerlebnisse geredet.

Und weil die besten Gespräche die sind, die nichts wissen, sondern etwas erfahren wollen, habe ich ganz viel erfahren. Was ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, damals auch mitteilte.

In Vorbereitung auf diese Aufgabe hatte das Thema gewaltig in mir selbst rumort. Wie war das eigentlich, wie bin ich zum Lesen gekommen? Im Hausstand, in dem ich groß wurde, gab es nur wenige Bücher und schon gar keine Bibliothek. So sehe ich mich also als Schülerin in die Städtische Bücherei wandern. Der Weg war weit, die mitgebrachten Schätze lohnten ihn jedoch. Ich habe mit den literarischen Helden gelitten und mich gefreut, das sagt ganz frühe Erinnerung. Für mich hieß der Pinoccio damals Burattino – seine Streiche, aufgeschrieben von Alexej Tolstoi, waren den italienischen ähnlich. Die poetische Geschichte des „Zauberers der Smaragdenstadt“ von Alexander Wolkow, im Westen kannte man die als den „Zauberer von Oz“, ist mitsamt ihren wunderbaren Illustrationen unvergessen im Gedächtnis. Erwin Strittmatters „Tinko“ gehörte ebenso zu ersten Leseerlebnissen wie Ludwig Renns „Nobi“, die Erzählung über das Leben eines schwarzen Jungen, oder Benno Pludras „Bootsmann auf der Scholle“, die Geschichte über einen kleinen Hund auf Abwegen. Ich bin glücklich darüber, dass die Bücher meiner Jugendzeit heute in Neuauflagen wieder erscheinen; bei Faber & Faber, Aufbau, dem Leiv-Kinderbuchverlag; bei denen, die sich nicht der „Zerstreuungs- und Nivellierungsbedrohung“ (Ulla Berkewitz) durch das Buch ergeben, sondern Stimme freundlicher Beharrung sein wollen, dass Lesen bildet und Spaß macht.

Lesenacht in der Stadtbücherei

Dass Kinderbücher auch skurrile Ergebnisse zeitigen können – schon die sind ein Grund, ein Leben lang weiter zu lesen! – demonstriert diese Geschichte: Zu meiner Lektüre gehörte auch das „Nibelungenlied“. Ich weiß nicht mehr, wer die Mär  kindgerecht in Prosa goss, das Buchcover habe ich jedoch vor Augen. Es brauchte allerdings zehn Jahre, bis ich die pikante Episode der Hochzeitsnacht nachgereicht bekam, die Gunther, von Brünhild zum Paket zusammengeschnürt, an einem Wandhaken zu verbringen gezwungen war. Das war natürlich nichts für unverdorbene Kinderohren! Erst im Studium, als ich mich durch das mittelhochdeutsche Original ackerte, lockerte im Seminar die Diskussion über diesen Spaß „der Nibelunge nôt“. Die eigene Not mit der schwierigen Grammatik der sieben Ablautklassen ebenfalls!

 „Am jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen/Und alles aus ist mit dem Erdenleben,/Sind wir verpflichtet, Rechenschaft zu geben/Von jedem Wort, das unnütz uns entfallen.“ So reimte einst Goethe in seinem Sonett „Warnung“. Man möchte den Vers allen Schwätzern an die Wand pinnen; in Worthülsen labernden Politikern ebenso wie sinnfrei schwadronierenden Moderatoren. Es erschreckt mich, wie sorglos viele mit ihrer Sprache umgehen. Wäre es anders, wenn sie mehr läsen? Ich bin davon überzeugt.

Schon lange aber steht Lesen als beliebte Freizeitbeschäftigung nicht mehr an vorderer Stelle. Im Jahr 2011 besetzte es Platz zehn, 20,2 Prozent gaben in einer Studie an, „gar nicht“ zu lesen. Ich traf damals auf meiner Rundreise zum Glück Menschen, die alle gerne lasen, obgleich ich mir auch Körbe geholt hatte. Ob das Angst vor dem Outing des Nicht-Lesens war, weiß ich nicht.

So gesehen bin ich also nicht mit Leuten zusammen getroffen, bei denen die fiktive Frage, ob einer von ihnen die Bibliothek von Alexandria anzuzünden in der Lage gewesen wäre, mit Ja hätte beantwortet werden müssen. Diese Überlegung nämlich empfiehlt der Franzose Charles Dantzig, Jahrgang 1961, Autor eines reizenden Büchleins mit dem ein wenig provozierenden Titel „Wozu lesen?“, als Messlatte für ein Auskommen mit seinen Chefs. Eine sehr originelle, finden Sie nicht?

Nun werden Lyrik und Prosa ja nicht als Lebenshilfe geschrieben, aber nützliche Lebensmittel dürfen sie schon sein. Jeder vierte Deutsche liest keine Bücher, haben Meinungsforscher herausgefunden. Das kann Angst machen genauso wie diese Welt, in der Dante und Hieronymus Bosch immer noch ihre Fantasien bestätigt fänden. Aber woher sollte die Fähigkeit zum Dialog kommen, wenn der Dialog, das Gespräch mit einem Buch, das „Simulationsraum“ und „Probebühne“ für die Verhandlung überlebensnotwendiger Probleme und Konstellationen (Dieter Wellersdorf) sein kann, nicht erlernt wird von Kindheit an?

„Literatur impliziert die Utopie, dass Menschsein anders sein könnte“, ist sich der Autor Max Frisch sicher.  Wie gestaltet sich Ihr Verhältnis zu Büchern? Ist es eine Liebes- oder Bankrotterklärung? „Verdooft man restlos“, wie Verlagsgründer Ernst Rowohlt an Hans Fallada im Jahr 1942 schrieb? Oder hat Friedrich Hölderlin Recht, der meinte: „Was aber bleibet, stiften die Dichter.“  

Greifen Sie doch am Tag des Buches wieder einmal zu vermeintlich vergessener Lektüre! Denn wie schrieb der oben zitierte Charles Dantzig:„Nach Beendigung seiner Lektüre wird  der Leser keinesfalls in den unberührten Zustand einer leeren Datei zurückversetzt.“ Denn: „Mit der Wahl unserer Lektüre kleiden wir unsere Emotionen ein, …, verleihen dem Grummeln unserer Gedanken Eloquenz…. Ich las, und mir war so, als sähe ich das Licht…Es waren wohl eher Lichter, die mir aufgegangen waren, Lichter der Aufklärung im Sinne des 18. Jahrhunderts“.

Barbara Kaiser – 20. April 2021