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Die fremde Sicht fürs Selbstverständnis

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Ausschnitt aus einem Bild von Marie Boiselle

Ausschnitt aus einem Werk von Marie Boiselle – Fotos: Barbara Kaiser 

Zur Ausstellung Marie Boiselle und Pavel Gempler im Kunstverein Uelzen

Vernissage Samstag, 23. August 2025, 17 Uhr

Marie Boiselle vor einem ihrer Werke

Marie Boiselle

Manchmal denkt man ja an Dinge, die nichts damit zu tun haben, worüber eigentlich zu reden ist. So fiel mir auf, dass die beiden Künstler, Marie Boiselle und Pavel Gempler, geografisch ganz weit weg voneinander groß wurden. Sie im Westen Deutschlands, er an der Grenze zu China im Osten Kasachstans. Ist der Zufall nicht erfreulich, dass beide jetzt in einer Ausstellung vereint im Kunstverein ihre Arbeiten zeigen? Aber für Kunst und Kultur war die Welt ja schon immer durchlässig, schien nicht so viele Grenzen zu kennen.

Es sind großformatige Bilder zum Titel „Overload“ – Überladung, Überflutung, Überreizung – die präsentiert werden. In diesen Zeiten muss man das eigentlich nicht erklären. Gerade deshalb überrascht es, wie fragil die Kunst zur Befragung der Wirklichkeit genutzt wird. Wie das Prinzip der Weltverkleinerung zugunsten der Ausschnittvergrößerung wirkt. Wie die Arbeit am Werk auch zur Ausgestaltung von Verzweiflung und Gefangensein wird.

Man braucht ja, nicht nur um geistig lebendig zu bleiben, sondern auch für das eigene Selbstverständnis, die fremde Sicht. Die Bilder dieser Ausstellung, die bis zum 21. September 2025 in der Galerie des Kunstvereins zu sehen sein werden, sind Bilder von zuständlichem Sein und innere Visionen. Sie sind ein bisschen Archäologie des Alltags und temperamentgeladen. Und ganz bestimmt sind sie auch der Umgang mit der eigenen Wut, der eigenen Grübelei und der eigenen Lebensgenussfähigkeit.

Pavel Gempler vor dem Bild: "Porzellan im Zug"

Pavel Gempler vor dem Bild: “Porzellan im Zug”

Pavel Gempler wurde 1981 geboren. Als er mit 17 Jahren nach Deutschland kommt, kann er nur Russisch. Mit Hilfe der Otto Benecke Stiftung, die nachhaltige Integrationsprogramme und Qualifizierungsangebote für Zugewanderte und Geflüchtete entwickelt, lernt er in Berlin Deutsch und legt 2002 das Abitur ab. Dann studiert er Zahnmedizin, bricht das Studium aber ab, weil es ihm wenig entspricht. Hatte doch der kleine, siebenjährige Pawel (das v im Namen ist eine Verbeugung vor westlicher Transkription) auf die Frage seines Großvaters, was er einmal werden wolle, geantwortet: Bildhauer. Das sind ungeheuerliche Träume in einer kleinen kasachischen Stadt, in der die Familie über Generationen aus Handwerkern besteht. Aber es kam ja doch alles ganz anders…

Bild "Macht und Narzissmus" von Pavel Gempler

Bild “Macht und Narzissmus” © Pavel Gempler

Nach dem Abitur und dem Ausflug in die Stomatologie studiert Pavel Gempler Kunst an der Hochschule Bremen, arbeitet auch als Bühnenbildner an der Hamburger Staatsoper. Heute lebt er in Berlin, geht einer Arbeit nach, die ihm Miete und Brötchen finanziert und malt seine Bilder, die eine Melange aus klassischem Realismus, abstrakten Elementen und Surrealem sind. Mythologische Bezüge gibt es außerdem. So lässt sich der Künstler vor dem Bild „Porzellan im Zug“ fotografieren. Darauf zu sehen Herakles und Omphale, das antike Ehepaar. Herakles, so sehr der Liebe verfallen, dass er dem Kleider- und Rollentausch mit der Gemahlin zustimmt und hinnimmt, dass seine Frau in Löwenfell mit Keule stolziert, und er selber zur Spindel greift. Nun muss man ja heutzutage vorsichtig sein, darüber zu lachen, vielleicht entdeckte der griechische Held seine weibliche Seite? Naja, eher nicht – und hier kommt sicherlich der Bildtitel ins Spiel: Porzellan in einem Zug, die Amphoren stehen aufgereiht im Bildvordergrund, ist eine sehr zerbrechliche Angelegenheit. Wie schnell sitzt man auf einem Scherbenhaufen. „Wir alle sitzen  auf einem Scherbenhaufen“, sagt Pavel Gempler, „die vielen Epochen, die wir unter uns haben.“ Aus denen man aber auch schöpfen könne. Neue Ideen beispielsweise. Sie sind eine Fundgrube.  Gleichzeitig sieht der Maler, dass eine Zurschaustellung auch Gefahr birgt, die Gefahr der Zerstörung. Der Bedrohung vielleicht auch. Die plumpe Linie zur Gegenwart sei jetzt hier nicht gezogen, Debatten um Regenbogenfahnen sprechen da für sich.

Pavel Gempler versteht sein Leben (und seine Kunst) als Prisma – je nach Lichteinfall beleuchtet er die Dinge, die verschieden erscheinen können aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Maler bekennt sich dazu, dass die Kunst, die Massen bewegt, vorbei ist; Agitprop ist Vergangenheit. So schön deutlich und schwarzweiß kriegt man es nicht mehr. Aber: „Am Ende wollen wir alle verstanden werden, aber natürlich stoße ich auch auf Unverständnis“, sagt er. Zugegeben, ein bisschen Nachdenken muss man schon investieren vor den Arbeiten. Beispielsweise erschließt sich „Der nichtlineare Verlauf der Geschichte“ nicht so offenbar wie „Macht und Narzissmus“. Aber solche Nachdenk-Bilder machen doch auch Freude, sind eine Herausforderung. Versuchen wir es doch!

Werk von Marie Boiselle

© Marie Boiselle

Ganz anders steht man vor den Arbeiten von Marie Boiselle, die allesamt keinen Titel haben. Im Jahr 1994 geboren, legte sie 2013 das Abitur ab und studierte zunächst fünf Semester Mathematik. Ein wenig von diesem strengen Denken sieht den Betrachter vielleicht aus den Bildern an; ein wenig Konstruktion und Statik, bei aller Verwischung und  vermeintlicher Flüchtigkeit. Die Bilder bestehen aus Realem ohne real zu sein. Marie Boiselle nutzt alle technischen Möglichkeiten des Computers. Man könne sich ja Reflexe und  Lichteinfall berechnen lassen oder wie Wasser fließen könnte. Herausgekommen sind Landschaften, die komplett künstlich sind, die aber ursprünglich vom Menschen gestaltet wurden. Das Großformat, vor dem sie sich fotografieren lässt, sieht auf den ersten Blick aus wie die Akropolis. Aber eben nur auf den ersten Blick. Ist der Berg wasserumtost? Bröckelt der Felsen schon? Marie Boiselle ist eine Spielerin, aber trotzdem mit großem Ernst bei der Sache. Ernsthafter und konstruktiver als jene, die sich nur in Malgesten austoben, Farben tröpfeln oder auf andere Weise den Zufall, den halluzinatorischen Rausch oder das Unterbewusstsein kultivieren.

Werk von Marie Boiselle

© Marie Boiselle

„Ich weiß nicht, ob meine Malerei was erzählt“, bekennt sie, „aber sie schafft einen Ort, wo man sich aufhalten kann.“ Sie erzeuge auch Stimmungen, auf die man sich einlassen oder – es bleiben lassen muss. Das klingt trotzig-selbstbewusst. Die Bilder entstehen zuerst intuitiv und dann überlege sie: Wie sieht es aus – wie soll es aussehen. Und geht an die Bearbeitung. Hier ein Schatten, dort ein Lichtspot, dann eine neue Schicht als Verstärkung. Manchmal entstehen so fünf und mehr Farbschichten. Marie Boiselle weiß es: „Die Leute lieben meine Bilder oder sie hassen sie.“ Aber auf jeden Fall hat sie Recht: Man muss sich einlassen, treiben lassen, „Gefühl ist alles, Name Schall und Rauch“. Wer sich wiederfindet in einem Strudel oder in einer Erinnerung, der ist wohl angekommen.

„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“, war Paul Klee überzeugt. Man versteht die Bilder von Pavel Gempler und Marie Boiselle über den Intellekt oder das Gefühl. Die zwei Künstler entführen die Betrachter auf einer handwerklich und künstlerisch sehr soliden Basis in ihre Reiche: Lassen sie sich einfach an die Hand nehmen!

Barbara Kaiser – 22. August 2025

Initia Medien und Verlag UG

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