„Irgendwann ist alles gesagt“
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Zum Tod der Schriftstellerin Doris Gercke
Sie hatte bis zuletzt noch gearbeitet. Kleine Geschichten über Menschen in der Stadt geschrieben. Die sollten nicht gedruckt, sondern im Netz erscheinen. Dazwischen hat sie viel gelesen, auch wiedergelesen. Die Werktagebücher von Volker Braun zum Beispiel, aus denen sie, wie sie sagte, immer noch eine neue Essenz mitnehmen konnte. Für einen Besuch im neuen Museum Uelzen, den wir verabredet hatten, reichte die Kraft nicht mehr. Nun ist Doris Gercke im Alter von 88 Jahren in Hamburg gestorben. Der Laptop bleibt zugeklappt.
Der Schauspieler und Regisseur Alexander Kluge empfahl allen denkenden Menschen auf der Suche nach der eigenen Bedeutung die Frage im Futur II: „Wer werde ich gewesen sein?“ Wer also ist Doris Gercke gewesen?
Sie hatte sich von einem frühen und dem wohl größten Irrtum, ein Leben als Hausfrau mit Kindern könnte ihr genügen, rechtzeitig und gründlich verabschiedet. Zum Glück für uns Leser. In Greifswald geboren, kam sie mit zwölf Jahren, im Sommer 1949, in den Westen, damals noch Trizone. Das „war für mich tragisch. Aber heute denke ich, dass es der Grund dafür ist, dass ich schreibe“, resümierte sie anlässlich ihres 80. Geburtstages. Denn das Mädchen Doris begriff in der Schule in einem vornehmeren Stadtteil Hamburgs, „dass im Westen die (Klassen)Grenzen ganz klar gezogen sind. Schon in der Schule.“ Studieren konnte Doris Gercke wegen der Familienverhältnisse nicht. Bei drei Kindern hatte es für das Schulgeld gereicht, für ein Stipendium fehlten die Mittel. Sie hätte gern Jura studiert. In der Berufsberatung sagten ihr die Leute: Beamter ist so was Ähnliches. Also absolvierte sie eine Ausbildung zum Regierungsinspektor und arbeitete in der Schulbehörde. Sie lernte ihren Mann kennen, die beiden Kinder kommen mit 20 beziehungsweise 22 Jahren. An der intellektuellen Unterforderung als „nur Hausfrau“ litt die junge Frau sehr. Aber mit 40 Jahren holte sie im Rahmen einer Begabtenförderung das Abitur nach und erfüllte sich wirklich den Traum vom Jurastudium.
In den Semesterferien des Jahres 1987 begann sie, schon 50-jährig, mit dem Schreiben. In einem Jahr würde sie ihr Studium abgeschlossen haben. Dieses eine Jahr später allerdings hatte sie bereits drei erfolgreiche Bücher fertig. Die Frage, werde ich Strafverteidigerin oder etwa doch nicht, beantwortete die Juristin für sich folgerichtig mit der uns heute bekannten Konsequenz.
Für das Schreiben gab es zwei Initialzündungen, eine sehr frühe und eine spätere. Das Bild aus Kindertagen ist so einprägsam, dass es jeder sofort sieht: Eines Tages kam Martin Andersen Nexö nach Greifswald. Seine Biografie sagt, es muss 1947 gewesen sein; da bereiste der Däne Deutschland, ehe er 1951 endgültigen Wohnsitz bei Dresden nahm, wo er 1954 starb. Die zehnjährige Doris steht an der Straße, um dem Manne mit vielen anderen zuzuwinken. „Das war für mich das Bild eines berühmten Schriftstellers: Wehendes weißes Haar, Fahrt im offenen Wagen; sie hatten ihm ein blaues Pioniertuch umgebunden“, erinnert sie sich bis heute.
Zur selbstbewussten, kindlichen Überzeugung, Schreiben könne sie auch, gab es 40 Jahre später eine erschütternde Geschichte, die ihr ein Polizist erzählte. Diese Geschichte „hat mich umgehauen. Ich wusste gar nicht, was ich schreiben wollte, ich wusste nur, wenn es passiert ist, dann muss man auch eine Form finden, es aufzuschreiben.“ So ähnlich findet Doris Gercke ihre Erkenntnis später bei Anna Seghers formuliert: „Und ich verstand, daß es nichts gibt, was man nicht schreiben kann“, hatte die gesagt. So entstand nach einer wahren Begebenheit das erste Buch: „Weinschröter, du mußt hängen“.
Auf gar keinen Fall wollte Doris Gercke über sich schreiben, „bloß keine Selbsterfahrungsliteratur“, da sei genug Unsägliches auf dem Markt gewesen! Dass es für sie Krimis sein würden war klar. So wird Bella Block bereits für diesen ersten Roman geboren. Den Erfolg erklärt sich ihre Erfinderin so: Die Frauenbewegung gab es nicht mehr, aber in ihren Büchern war da plötzlich eine Frau, wie viele Geschlechtsgenossinnen träumten zu sein: Stark, finanziell unabhängig, mit eigener Existenz. Dass Bella auch politisch den Kopf nicht in den Sand steckt, wissen wir.
Zu der Autorin 70. Geburtstag waren Krimi-Kolleginnen nach Lüneburg gekommen und schenkten Doris Gercke eine wunderbare Feier in Form einer Lesung. Moderiert von Regula Venske brachten Hella Eckert, Ingrid Noll, Thea Dorn, Edith Kneifl und – Bella Block, pardon Hannelore Hoger, Textpassagen zu Gehör. Es gab zauberhafte Komplimente für das Geburtstagskind, die alle so sehr von Herzen kamen: „Du, liebe Doris, hast dem Genre der Kriminalliteratur ein literarisches Niveau verliehen. Du bist die politischste von uns allen und hälst an der Verantwortung des Schriftstellers fest. Für deine Unerbittlichkeit und Unbestechlichkeit bewundern wir dich!“, sagte Regula Venske damals und das galt auf jeden Fall immer.
„Über Politiker wollen wir lieber nicht reden“, sagte Doris Gercke meist, wenn wir uns, recht regelmäßig, zum Kaffee verabredeten. Natürlich ließ es sich nicht ganz vermeiden. 80 Prozent der Leute, die lesen, seien weiblich, wusste die Schriftstellerin. Aber sie fand es furchtbar, wie auch in der Literatur Trivialität und Einfalt Raum griffen – und sich die Frauen das gefallen ließen!
„Ich lese, seit ich lesen kann“, dieses Glück hatte Doris Gercke. Obwohl ihre Großmutter das sabotierte, wo sie konnte. Immer, wenn sie ihre Enkelin mit einem Buch antraf, hatte die sich der Frage zu stellen, ob sie nichts Besseres zu tun habe. Gedacht war dabei im schlimmsten Fall an eine Handarbeit, aber auch Unkraut jäten oder der Mutter zur Hand gehen. Nützliche Arbeit mit sichtbarem Ergebnis sozusagen. Denn was sich im Kopf der lesenden damals Achtjährigen, unsichtbar für die alte Frau, entwickeln würde, das war ihr allemal suspekt. Hätte sie geahnt, dass das Kind Doris nicht nur lesen, sondern sogar erfolgreich schreiben und politisch denken würde – es würde ihr gegraust haben.
Ich habe Doris Gercke seit mehr als 20 Jahren gekannt und sie begleiten dürfen. Auch als sie von Natendorf nach Hamburg umzog, hielten wir Kontakt per Mail, die nie nur Blabla-Schreiben waren. Ich durfte die bekannte Schriftstellerin für meine AZ-Reihe „Ganz privat“ besuchen und für die nächste „Lesen!“ befragen. Sie hatte damals sofort zugesagt, ganz ohne Ziererei oder gar Allüren. So war es geblieben. Wir hatten eine Verbindung, die nie Kumpanei werden wollte, aber eine tiefe Einvernehmlichkeit in der Sicht auf diese Welt ergab.
Jetzt wird der Mail- Kanal stumm bleiben. Fast 30 Bücher werden bleiben, in denen Doris Gercke vorurteilsfrei aber kritisch auf diese Gesellschaft schaute. Nie hat sie sich zum Zynismus hinreißen lassen, was manchmal sehr schwer ist, angesichts einer „stattfindende systematische Verblödung“. Ihre Gelassenheit war ansteckend. Sie war eine Kämpferin – keine Kriegerin. Manchmal ließ sie sich von mir begeistern durch die eine oder andere Beschreibung einer Veranstaltung; und wenn sie lobende Worte – meist für meine Buchbesprechungen fand – war ich sehr froh.
In einem Gedichtbändchen schrieb Doris Gercke: „Inventur 1978: Ein sehr guter Füller, selbst bezahlt,/ Und die Erfahrung von Jahren, /Die meine Leben waren und doch/ nicht mein Leben sind./… Nur sehr wenige Bücher, die aber unverzichtbar/ Und vor den Augen das Ziel, erreichbar/ als alte Frau – was immer/ das ist.“ Aus den wenigen Büchern war im Natendorfer Haus in den letzten Jahrzehnten eine ganze Bibliothek geworden. Und das Ziel der damals 41-Jährigen – Abitur, Studium, Schreiben – wurde erreicht. Der Erfolg und die bewahrte Unbestechlichkeit im Blick auf diese Welt waren ihr Credo. Sie hatte bis zuletzt geschrieben, obwohl sie anlässlich ihres 80. Geburtstages beschlossen hatte, dass jetzt „alles gesagt“ sei. Jetzt, acht Jahre später, hat es der Tod endgültig bekräftigt.
Barbara Kaiser – 30. Juli 2025