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Feuilleton News

Kalt – eiskalt – „Cold“

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Der preisgekrönte kanadische Dramatiker, Journalist und Filmemacher Drew Hayden Taylor schrieb seinen ersten Roman

Eigentlich mag ich Fantasiebücher nicht. Dafür fehlt mir einfach, ja, die Fantasie, um solche Unwahrscheinlichkeiten für möglich zu halten und ihnen auf der Spur zu bleiben. So gesehen hätte ich das Angebot des Merlin-Verlages nicht annehmen dürfen, der in der Adventszeit anfragte, ob ich an einem Rezensionsexemplar des Romans aus der Feder des kanadisch-indigenen Autors Drew Hayden Taylor interessiert sei. Hierin trifft Krimi auf alten Mythos, woraus Taylor eine intelligente Komposition von Literatur macht. Indigene Tradition mixt er mit modernem Großstadtleben und am Ende mit der Erkenntnis, dass man seinen Wurzeln nicht entkommt.

Schließlich hatte ich doch ja zum Angebot des Verlags gesagt, mich auf diese ferne Welt einzulassen, auch, weil der Merlin-Verlag für eine besondere Qualität seiner Bücher abseits allen Mainstreams und Bestsellerlisten steht. Bereut habe ich es nicht. Obgleich der Roman „Cold“ für einen Strandurlaub besser geeignet ist als für eine Zeit, in der auch vor der Tür Minusgrade herrschen.

Die Geschichte beginnt mit einem Flugzeugabsturz in der eisigen Wildnis Ontarios. Es gibt zwei Überlebende, aber Rettung scheint aussichtslos. Währenddessen geraten in Toronto ein Literaturprofessor, der nach der Affäre mit einer Studentin seine Ehe doch retten will, und ein Eishockeyspieler, dessen Glanzzeiten vorbei sind, und der sich mit dem Ende seiner Karriere konfrontiert sieht, immer tiefer in unerklärliche Ereignisse. Sie werden am Ende alle, die beiden überlebenden Frauen aus dem Flugzeug, der Professor und der Sportler zusammengeführt zum großen Showdown, der für einen Horrorfilm taugte. Ach ja, eine Kriminalkommissarin gibt es auch noch, aber die ist eher ratlos. Ein Wunder ist das nicht.

Zur Wirkung des Buches gehört, dass einen seine Fragen verfolgen. Oder wissen Sie, liebe Leserinnen und Leser, was ein Wendigo ist? Und haben Sie schon mal am Ufer eines Flusses mit kleinen behaarten Leuten sprechen können, die Ihnen zuwinkten? Um es ganz kurz literaturwissenschaftlich auf den Punkt zu bringen: Taylor, der selber der Curve Lake First Nation entstammt, versteht es, mit Hilfe seiner Literatur-Melange ganz viel Neugier zu wecken, eine Menge an Erkenntnis zu verankern in uns arroganten Europäern, die wir glauben, die Welt höchstselbst geschöpft zu haben. „First Nations“ ist ein wunderbarer Begriff für die Ureinwohner, so absolut angemessen und voller Würde. – In Kanada sprach man 70 Sprachen, ehe die ersten Siedler in das Land einfielen, die Indigenen in Reservate sperrten, ihnen ihre Kinder entrissen, um sie in „Residential Schools“ zu „kultivieren“. Die letzte dieser Zuchtanstalten, die der Staat bezahlte und die Kirche betrieb, wurde erst 1996 geschlossen! Es ist unglaublich und unvorstellbar. An dieser Stelle muss man auch erwähnen, dass die so freiheitlichen USA gegründet wurden auf den Fundamenten eines Genozids. Dem an den Ureinwohnern.

Drew Hayden Taylors Literaturprofessor war Schüler in solcher „Residential School“, mit sechs Jahren wurde er aus dem Elternhaus geholt. Am Ende wird er in seiner alten Heimat am Fluss warten… Ein Happy End ist das aber trotzdem nicht. Aber die Frage war ja die nach einem Wendigo. Dieses Ungeheuer ist in der kanadischen Kultur der Inbegriff für Gier und Konsumdrang. Er kommt aus den tiefen, dunklen Wäldern, überfällt und frisst Menschen. Er kann jedoch auch in einem nisten und von ihm Besitz ergreifen. So wie die kleinen behaarten Leute an den Flussufern für die innige Verbindung zur Natur stehen – wenn man sie denn zu sehen in der Lage ist, steht der Wendigo für das Gegenteil. Und so gesehen hätten die Ungeheuer in unserer Gegenwart ganz viel Arbeit!

Die Erzählatmosphäre in Drew Hayden Taylors Buch befreit die 435 Seiten aber von der Last, Geschichtsbuch zu sein. Der Autor ist ein Fabulierer, er hat Humor, auch Galgenhumor. Sein Text ist ein Mahlstrom der Assoziationen mit schmerzhaftem Interesse am Detail. Gerade in Zeiten der größtmöglichen Individualisierung und des schreienden Ich-ich-ich setzt der Kanadier auf das Wir. Er hat dabei so viele Untertöne zur Verfügung, dass sich der Leser die Schicksale ausmalt und sich in den Thrill des Kriminalfalls, denn das ist er ausschließlich für die „moderne“ Gesellschaft, hineinziehen lässt. Weil wir schon lange verlernt haben, mit den“ kleinen Leuten“ zu sprechen, wir huldigen eher dem Mehr-mehr-mehr. Der Wendigo des 21. Jahrhunderts ist vielleicht kein zottiges Wesen mehr, sondern heißt Krieg, Umweltzerstörung, Profitgier…

Manchmal scheint die Erzählung um den Professor, den Eishockey-Profi und die beiden Frauen in Taylors Buch zur Nebensache zu geraten, weil der Subtext wahrscheinlich ein ganz anderer, der wichtigere ist. Man liest das Buch atemlos, trotz der ganzen Imponderabilien und Unwahrscheinlichkeiten, klappt es am Schluss zu und – denkt nach.

Barbara Kaiser – 30. Dezember 2025

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