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Feuilleton

85 Bilder – ein Leben

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Georg Lipinsky mit 60 Blättern zum 60. Geburtstag in einer Ausstellung in Lüneburg (2000). Fotos: Barbara Kaiser

Georg Lipinsky präsentiert seine „Konkrete Biografie“ im Museum/Vernissage Samstag,13. Dezember, 16 Uhr

Müssten Sie ein A4-Blatt zum Jahr 2025 gestalten, liebe Leserinnen und Leser, was würde darauf erscheinen? Ein ICE etwa, weil die zwölf Monate so schnell rasten und kaum eine Spur hinterließen? Ja, Bundestagswahl und neuer Kanzler – aber der alte Streit setzt sich fort. Immer noch kein Frieden in der Ukraine – dafür eine sehr fragile Waffenruhe in Gaza, das einer Mondlandschaft gleicht, wo 70 000 Palästinenserinnen und Palästinenser starben und wo das Leid unermesslich genannt werden muss. Vielleicht hatten Sie auch ein persönliches Ereignis, das gebannt gehört? Und wenn Sie nichts zu lachen hatten, nehmen Sie ein Bild der Auslosung zur Fußball-WM, wo sich der US-Präsident selber die Friedensmedaille umhing, weil er es nicht erwarten konnte. Usurpator nennt man solche Leute, Napoleon setzte sich dazumal auch die Kaiserkrone selber auf. 

Georg Lipinsky

1945

Es soll hier jedoch um den Künstler und Kunsterzieher Georg Lipinsky gehen, der solche privat-historischen Blätter für 85 Jahre fertigte. Seine 85 Lebensjahre. Damit ist er jetzt im Ausstellungsraum des Uelzener Museums zu Gast. Zu sehen sein wird diese „Konkrete Biografie“ bis zum 1. März 2026. – Der Untertitel der 85 Arbeiten mit erläuternden Texten lautet „Jahrgang 1940“, und damit setzt Lipinsky das Zeichen, dass es keinesfalls nur um ganz private Darlegungen geht. Das kennen wir von ihm: Bei Lipinsky gibt es immer einen doppelten Boden, eine zweite Ebene, eine Mitdenk-Aufforderung. Natürlich bestehen die Collagen aus konkreten Bildelementen, einem Feldpostbrief etwa oder einer Briefmarke, einer Zeitungsbildrakete mit langem Schweif, einem Baby- oder einem Hochzeitsfoto. So weisen die privaten Erinnerungen oder Printschnipsel nicht nur auf sich selber, sondern heben die fertige Collage auf eine Metaebene. Auf diese „übergeordnete Perspektive, die es ermöglicht, eine Situation, Kommunikation oder ein System von außen zu betrachten, zu analysieren und zu reflektieren, anstatt direkt darin verstrickt zu sein“ (Google). Auch der Künstler selbst sagt dazu, die einzelnen Fotos seien „real gemeinter Gegenstand und gleichzeitig Vehikel für die Herstellung eines Gesamtzusammenhangs“.

Georg Lipinsky

1992

Georg Lipinsky ordnet also alle gesammelten Bestandteile – er hat für das laufende Jahr immer einen Kasten, aus dem er am Schluss des Jahres schöpft – neu. Am Ende werden seine ganz privaten Lebensbilder auch stellvertretend stehen für einen Jahrgang, seinen Jahrgang 1940, für eine Generation.

Ich habe vor der Reihe der 85 Blättern, die ich kenne, seit der Künstler 60 wurde und es  – logischerweise – noch 25 weniger waren, überlegt, was ich für mich beispielsweise für das Jahr 1995 zusammenfügte. In diesem Jahr habe ich meinen Mann kennengelernt, geheiratet und bin nach Uelzen gekommen. Vor 30 Jahren. Die deutsche Einheit war gerade fünf Jahre jung. Da hatte ich mein geliebtes Thüringen verlassen und sollte ab da zum Hainberg „Berg“ sagen. Lächerlich. Und dann stand da plötzlich auf dem Ortsschild Westerweyhe „Ossis raus“.  Willkommen in einer schönen neuen, fremden Welt!

Georg Lipinsky

1994

Georg Lipinsky fiele etwas ein für mein Jahr 1995, da bin ich sicher. Aber ich erkenne mich auch auf seinen Blättern. Beispielsweise 1992: Da kriecht ein kleiner Nazi aus einer Sardinendose und hebt den rechten Arm zum Gruß. Es war das Jahr der Pogrome in Rostock Lichtenhagen, wo solche ewiggestrig Geschichtsvergessenen einen Neubaublock mit vietnamesischen Vertragsarbeitern abfackelte unter dem Beifall der Nachbarn, und die Polizei untätig blieb. Es war der Anfang einer verhängnisvollen Entwicklung in unserem Land, und die DDR-Flagge auf dem Bild ist inzwischen schon lange in die bundesdeutsche gewechselt, denn Mölln geschah im selben Jahr… Oder das Jahr 1963: Ich weiß nicht, ob mir die Tatsache der Ermordung Kennedys nur durch Erzählungen präsent ist, denn ich war ein Kind, aber ich meine, die Nachrichten am Morgen, noch vor der Schule, im Radio gehört zu haben. Georg Lipinskys Blatt wird dominiert von einem Kopf dieses Politikers, mit dem man an ein anderes Amerika hätte glauben können. Dass der Künstler in diesem Jahr auch sein Studium in Göttingen begann, ist aber trotzdem nicht vergessen.

Der 85-Jährige wurde in Ellrich am Harz geboren. Er ist das Kind des russischen Emigranten Jaroslav Lipinsky, der vor der Oktoberrevolution in Russland floh, und einer Deutschen, Annemarie. Es gibt noch eine ältere Schwester, Tatjana. Seit 1968 lebt Lipinsky in Uelzen. Er war als Lehrer tätig und ihm kam dieser Beruf immer von Berufung. Er war Stadtverordneter der Grünen, ohne Parteimitglied zu sein, und hinterließ viele künstlerische Spuren. Es gibt zahllose Wortmeldungen von ihm, denn im Elfenbeinturm der hehren Kunst saß Lipinsky nie. Seine thematischen Bilder-Reihen („Vom Fischer und seiner Frau“, „Geh aus, mein Herz“, „Genesis“, „KuhArt“) und viele politische Anmerkungen zum Geschehen in dieser Stadt und zu diesem Land Bundesrepublik gerieten stets angenehm scharf.

Seine „Konkrete Biografie“ ist Lebenswerk und wichtig, und diese Ausstellung muss eine große Befriedigung für den Künstler sein. Anerkennung auch, dass er sie im Museum zeigen darf. Es sind ihr viele Besuchet zu wünschen, die sich Zeit nehmen für die Betrachtung und Erforschung dieses privaten Lebenslaufes, der immer eingebettet blieb in die jeweiligen gesellschaftlichen Zustände und Entwicklungen. 

Barbara Kaiser – 10. Dezember 2025

Initia Medien und Verlag UG