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Mein Kind, ein Trans-Mann

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Gedanken einer Mutter

Warum eigentlich Johann? Habe ich denn gar nicht mehr mitzureden? Der Name Antonia hat mir so gut gefallen. Schon bevor sich bei mir überhaupt der Kinderwunsch einstellte, hatte ich den Gedanken, dass meine Tochter mal Antonia heißen soll. Ein Wunsch, der zunächst in Erfüllung ging.
18 Jahre später wurde aus Antonia Johann. Einen Einfluss auf den Namen hatte ich nicht mehr. Und auch sonst fühlte ich mich erst einmal, als ob mir der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Es war der erste Weihnachtsfeiertag. Antonia, die seit Jahren bei der Vater-Familie lebte, war zu Besuch. Schnee verwandelte die Welt da draußen in eine märchenhafte, malerische Winterlandschaft. Doch mein Inneres sollte an diesem Tag sehr durcheinandergewirbelt werden. Draußen malerisch, innerlich Schneesturm. Antonia und ich gingen im Wald spazieren. Es lag ihr etwas auf der Seele. Sie hatte Angst es mir zu erzählen, und doch fand sie irgendwann die richtigen Worte. Sie fühle sich mehr als Junge. Schon immer hat sie das Gefühl gehabt, dass irgendetwas nicht stimmt. Jahrelang hat sie das Thema mit sich selbst ausgemacht. Doch nun kann sie nicht mehr. Dieses Leben im falschen Körper kostet Kraft, sie habe eine Depression entwickelt, möchte wieder gesund werden und vor allen Dingen ihren weiteren Weg als Mann gehen. Sie habe schon professionelle Beratungsstellen aufgesucht und sei bereits in Therapie.
Schock und Bestätigung zugleich. Antonia war nie ein typisches Mädchen. Schon als Kleinkind hatte sie eher mit Autos gespielt. An Puppen zeigte sie gar kein Interesse. Kaum etwas, was „typisch Mädchen“ ist, konnte ich ihr zuordnen. Aber so weit zu gehen, dass sie im falschen Körper steckt, darauf wäre ich nicht gekommen. Klar, manchmal hat mich so eine Ahnung beschlichen. Aber das kann ja nicht sein. Nicht in meiner Welt. Und was bedeutet das überhaupt? Für uns?
Ich war ziemlich durcheinander, ratlos, überfordert, traurig. Habe ich meine Tochter verloren? Gefühle, die sich schlecht in Worte fassen lassen. Immer wieder habe ich die vergangenen 18 Jahre Revue passieren lassen. Hätte ich aufmerksamer hinschauen müssen? Woran hätte ich dies erkennen können? Ist es wirklich so, oder ist es nur eine Laune, ein Trend?
Nach dem ersten Schock war klar: Ich brauche Informationen. Wie kann das gehen, vom Mädchen zum Jungen? Wie ist das mit den Hormonen? Welche Operationen gibt es, was ist ratsam, wo sind Nebenwirkungen zu befürchten? Ich habe mich mit Büchern eingedeckt, Erfahrungsberichte gelesen, YouTube-Videos und Filme angeschaut. Nach und nach habe ich mir Wissen angeeignet, das mir die Angst vor der Zukunft genommen hat. Immer wieder habe ich auch Johann mit Fragen bombardiert. Er mochte es nicht immer gern, und ich weiß auch nicht, ob dies der richtige Weg war, aber ich wollte Einblick in seine Gefühlswelt. Anfangs hat er sich dadurch sehr unter Druck gesetzt gefühlt. Vielleicht habe ich durch Unwissenheit auch Grenzen überschritten. Doch nach und nach ist durch diese vielen Gespräche eine tiefe Bindung zwischen uns und ein großes Verständnis entstanden. Dafür bin ich sehr dankbar. Auch darüber, dass ich durch meinen Sohn meinen Horizont erweitern darf. Ich lerne in Sachen LGBTQ immer noch jeden Tag dazu.
Ein Satz von Johann lautet: Ein Mensch sollte nicht nur über seine Geschlechtsorgane definiert werden. Er ist doch viel mehr und sollte in seiner ganzen Persönlichkeit gesehen werden. Eine Aussage, die zum Nachdenken animiert und, wie ich finde, treffender nicht formuliert werden kann.
Unser Alltag ist bunt und aufregend. Psychologen, die eine Sitzung mit „Haben Sie eine Vulva oder einen Penis?“ beginnen, gehören auch dazu und zeigen, dass noch viel Aufklärung notwendig ist. Auch wenn wir finden, dass es grenzüberschreitend ist, versuchen wir dies mit Humor zu nehmen. In der Schule war und ist die Reaktion der Mitschüler und Lehrer auf das „Outing“ überraschend positiv, offen und tolerant. Darüber bin ich sehr froh.
Ich selbst habe etwas Zeit gebraucht, um den Knoten in meinem Kopf zu lösen: Anfangs habe ich immer noch sie und Antonia gesagt und musste mich oft korrigieren. Mittlerweile ist „er“ bei mir angekommen und nun komme ich ins Stolpern, wenn es umgekehrt ist. Denn noch ist es nicht amtlich. Die offizielle Namensänderung wird ab November 2024 mit dem Inkrafttreten des Selbstbestimmungsgesetzes erfolgen. Die Hormontherapie beginnt voraussichtlich im nächsten Jahr…
Seit dem ersten Weihnachtstag sind nun fast drei Jahre vergangen. Für mich ist klar, Johann ist mein Sohn. Ich bin offen, für das, was kommt. Auch Johann kann nun zuversichtlicher in die Zukunft schauen. Natürlich bin ich aufgeregt: Wie wird sich sein Aussehen verändern? Wie seine Stimme klingen und wie wirkt sich der männliche Hormoncocktail auf sein Wesen, seine Psyche aus?
Heute weiß ich, es war kein Abschied. Ich habe eine Tochter verloren und einen Sohn bekommen. Meiner Liebe zu dem Kind ist es egal, ob es nun eine Tochter oder ein Sohn ist. Mein Kind lebt und ich wünsche mir, dass es sich in seinem Körper wohlfühlt. Nur das zählt. Und solange es Johann wünscht und es nötig ist, möchte und werde ich mein Kind auf diesem ganz besonderen Weg begleiten.

Anonym

Initia Medien und Verlag UG

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