Fotos: Kaiser
Aufführung des Paulus-Oratoriums gelang beeindruckend und mit Glanz
Nach zwei Stunden und 20 Minuten verklang der letzte Ton. Da hatte die große Orgel in St. Marien längst zu Orchester, Solisten und Chören gefunden. Danach Stille. Und dann der Beifall; rhythmisch, jubelnd, einhellig. Was für eine gelungene Vorstellung. Und Erik Matz hatte Recht, als er vor einer Woche im Gespräch sagte: „Es ist lang und sehr schön, aber wenn es vorbei ist, denkt niemand: das war aber lang.“
Erik Matz
Es ist die Geschichte von Irrtum und Bekehrung, von Liebe und Hass und Neid, von Vergewisserung, Glaube und Zuversicht. Das alles am 9. November, dem deutschen Schicksalsdatum. Das Paulus-Oratorium op. 36 von Felix Mendelssohn-Bartholdy für Gesangssolisten, Chor und Sinfonieorchester erklang in Kooperation von St.-Marien-Kantorei, Hugo-Distler-Ensemble, den Lüneburger Symphonikern, Sarah Hanikel (Sopran), Matthias Koziorowski (Tenor) und Andreas Beinhauer (Bass). Am Pult stand Erik Matz. Der hatte diesen Marathon der Oratorienmusik schon einmal 1998 aufgeführt, „es war mein erstes großes Konzert“, sagte er, drei Jahre vorher war er nach Uelzen gekommen. Der Kantor zeichnete in den langen drei Jahrzehnten für zahllose Musikerlebnisse verantwortlich, diese Aufführung wird sich, gibt es eine Rangfolge, auf den vorderen Rängen einreihen.
Sopranistin Sarah Hanikel
In pulsierend warmem Sound begann die Ouvertüre, das Orchester präsentierte sich in allen Registern von Anfang an beharrungsstark verlässlich und als dringliche musikalische Wirkungsmacht. Die Balance zwischen Solisten und Chor stimmte zu jedem Zeitpunkt, da drängelt sich nichts und niemand in den Vordergrund. Erik Matz gab der Partitur Prägnanz und Durchsichtigkeit, war ein wacher, agiler und sehr energischer Leiter. Diese Ouvertüre stimmte ein auf einen musikalischen Abend voller Spannung; er würde sich zwischen zartem Arioso und klirrender, hassender Wucht bewegen.
Das Publikum in der nahezu ausverkauften St.-Marien-Kirche ließ sich in den emotionalen Ausnahmezustand versetzen, die die Reise des Saulus-Paulus ist. Vom Christenverfolger, einem McCarthy vor 2000 Jahren, zum Verkünder der neuen Lehre, zum Apologeten. Ein Wendehals? Das legen die theologischen Texte so nicht nahe und es wäre eher eine Diskussion für diesen Berufsstand. Aber es ist gleich, ob Paulus nun ein ehrlich Bekennender war oder einer, der sein Fähnchen nach dem Wind hing – die alten Texte bleiben wie neu und rühren an, wenn sie Heutiges (be)treffen. „Der Mensch hört nicht auf zu reden Lästerworte“ (obgleich das jetzt sehr aus dem Zusammenhang gerissen ist!) oder „Wie lieblich sind die Boten, die den Frieden verkündigen…“. Wie schwankend der Mensch ist und wie wenig er wirklich (wahrhaft) sieht – davon erzählen die Texte, die der Dessauer Konsistorialrat Julius Schubrig aus der Bibel zusammenstellte. So wie es der Komponist bestellt hatte.
Und was für eine Musik Felix Mendelssohn-Bartholdy dazu erfand! Nach zwei Jahren Arbeit stellte der 27-Jährige sein Werk am 22. Mai 1836 auf dem Rheinischen Musikfest in Düsseldorf vor. Diese Musik ist Ausdruck für geistige Erweckung und besitzt eine Gefühlsfülle, die ihresgleichen sucht. Der Melodiker Mendelssohn schuf großartige Chöre, aufregende Orchesteraufgaben und eingängige Solistenparts. Von schlicht-anmutig bis feierlich-pathetisch, gekrönt von einem klangprächtigen D-Dur-Schluss.
Bass Andreas Beinhauer
In dieser Aufführung in St. Marien wurde nichts zelebriert, sondern mit überzeugender Hingabe musiziert. Alle Beteiligten blieben in bescheidener Demut auf Augenhöhe mit den Texten und dem musikalischen Genius. Es war Musik angespannter Energie und freudiger, ja fröhlicher Zuversicht. Die Solisten allesamt ihren Aufgaben gewachsen; makellos intoniert, an Forcierung und Vibrato gespart und doch die Gefühlsüberschwänglichkeit der Musik voll genüsslich ausgekostet. Die St.-Marien-Kantorei und das Hugo-Distler-Ensemble waren in betörend klarer Stimmform, sensibel wie schlagkräftig, in den dramatischen Passagen für einen Gänsehautschauer gut. Ob als klagende Gemeinde, hysterisches Volk oder kommentierend – die Chöre unterschlugen an keiner Stelle den Silberglanz der Klänge und deren Präzision. Die Solisten blieben stimmlich standhaft an der Seite von Chor und Orchester, textverständlich, mal lyrisch, mal dramatisch, immer präsent.
Tenor Matthias Koziorowski
Und was war für Erik Matz nun anders nach fast 30 Jahren? Ich habe ihn gefragt, wie man mit gerade mal Anfang 30 und jetzt fast 60 solch eine Aufführung erlebt. „Das kann ich gar nicht sagen“, lautete seine Antwort. „Ich denke, ich bin wirklich etwas entspannter und kann auch mal ganz leise dirigieren. Und: das Vertrauen in die Kompetenz in andere ist gewachsen.“ Ein schöneres Kompliment an alle seine Akteure kann es fast nicht geben.
Barbara Kaiser – 10. November 2025