Lust auf Gedichte?
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Anna Magdalena Bössen versuchte die zu wecken – zwischen klassischer Ballade und Nonsens-Lautgedicht à la Hugo Ball
Eigentlich hatte die Akteurin, die da auf der Bühne des Neuen Schauspielhauses stand, schlechte Karten: Vor Monatsfrist präsentierte nämlich dort die „Bühne Cipolla“ Balladen von Friedrich Schiller, und es war ein Hochgenuss. Lautmalerisch und deklamatorisch, voller Sprechkultur und hinreißender Empathie. Dass sich das vom Abend mit Anna Magdalena Bössen nur eingeschränkt sagen lässt, lag nicht daran, dass sie nicht zusätzlich mit übergroßen Marionetten spielte, wie es Sebastian Kautz von „Cipolla“ tat. Nein, der studierten (!) Rezitatorin fehlte dazu einiges mehr. So blieb der Abend einer zwischen Deutschunterricht und Gedichte aufsagen.

Anna Magdalena Bössen mit Mascha Kaleko.
Anna Magdalena Bössen begann mit dem Pionier der Lautgedichte, Hugo Ball. „Die Karawane“ – dem Dada- Nonsens aus dem Jahr 1917, die man halt mögen muss. Ein Versuch des Dichters (?), einer sinnentleerten Welt wieder Inhalt zu geben. Die Rezitatorin gliederte ihr Programm in vier Abschnitte: Tod, Leben, Liebe, Lachen. Symbolisch wechselte sie dafür in der Bühnenvase die Blumen: Eine weiße Lilie, ein knospender Zweig, eine rote Rose, zwei Gerbera. Musikalisch wilderte sie bei Beethoven und Edvard Grieg. Nachdem sie die Zuschauer basisdemokratisch beteiligt hatte und die wählen durften in den Rubriken, zum Beispiel zwischen dem Schillerschen „Taucher“ und „Gevatter Tod“ der Gebrüder Grimm (das Publikum entschied sich für den Schiller!) oder Hermann Hesses „Stufen“ und Hölderlins „Lebenslauf“ (die Hölderlin-Rezitation war eine der unglücklicheren des Abends), ging es los.

Anna Magdalena Bössen mit Annette von Droste-Hülshoff.
Zwischen Mascha Kaléko und Johann Wolfgang Goethe – „Memento“ und „Der Erlkönig“. Zwischen Annette Droste-Hülshoff und Ludwig Uhland – „Am Turme“ und „Frühlingsglaube“. Zwischen Erich Kästner und Rainer Maria Rilke – „Sachliche Romanze“ und „Liebeslied“. Und zwischen Eugen Roth, Joachim Ringelnatz und Ernst Jandl – da war man schon bei der Rubrik „Lachen“ angekommen und recht erleichtert. Dass die 90 Minuten vorbei waren? Nein, so arg war es nicht. Aber man wünschte sich schon ein wenig mehr Intonation, ein mehr an Emphase, dass die Erregungskurven der Sprecherin ein paar Amplituden von größerem Ausschlag gehabt hätten (wie beim Brechts „Seeräuberballade“ etwa). – Natürlich ist so ein Abend eine große mentale Leistung, aber einer studierten Rezitatorin sollte das nicht so schwerfallen. Es ist auch aller Ehren wert, dass die Künstlerin sich bemüht, den Leuten die Lyrik, die gereimten und ungereimten Gedichte, nahe zu bringen. Weil so ein Satz wie „Die linden Lüfte sind erwacht…“ oder „Frühling läßt sein blaues Band…“, wenn man innezuhalten bereit ist und ihm nachlauscht, ungeheuer belebend sein kann.
Lesen Sie noch Gedichte, liebe Leserinnen und Leser? Und lernen Sie gar ein neues auswendig? Oder hängen sie denen in der Schule gelernten auf immer an? Es ist gut für den Kopf, wenn man dranbleibt; ein mir bekannter Künstler erzählte einmal, dass er Hölderlin auswendig lerne. Das ist nun gleich die hohe Schule: „Ist nicht heilig mein Herz, schöneren Lebens voll,/ Seit ich liebe? Warum achtetet ihr mich mehr,/ Da ich stolzer und wilder,/ Wortreicher und leerer war?/ Ach! Der Menge gefällt, was auf den Marktplatz taugt,/ Und es ehret der Knecht nur den Gewaltsamen;/ An das Göttliche glauben/Die allein, die es selber sind.“ Ist das nicht wunderbar?

Anna Magdalena Bössen
Anna Magdalena Bössen erklärte ihren Zuhörern, dass ein Rezitator ein Geschichtenerzähler sei; mit den Figuren der Verse auf Augenhöhe. Aber nimmt nicht jeder Erzähler auch Anteil an der von ihm dargebrachten Geschichte? Das ließ der Abend vermissen, weil im Vortrag zu viel Monotonie war, die immer gleiche Satzmelodie. Und manchmal musste man auch ganz schön die Ohren spitzen… Was gibt es außerdem zu beckmessern? Vielleicht wäre den Zuschauer:innen ein Aha-Effekt zuzumuten gewesen beim Blick über die deutsch-deutsche Sprachgrenze, denn die beiden modernen Lyriker im Programm kamen (natürlich) aus dem Westen: Hendrick Rost (*1969) und Gerald Fiebig (*1973). Wie wäre es gewesen mit einer Anleihe bei Volker Braun, Günter Kunert, Peter Hacks, Franz Fühmann, Johannes Bobrowski oder Paul Wiens? Und weiblich: Gisela Steineckert, Eva Strittmatter, Sarah Kirsch? Die hätten auch eine Menge zu den Themen „Tod, Leben, Liebe, Lachen“ zu sagen gehabt. So wie Heinz Kahlau etwa: „Ich lebe jetzt. Mein Tod ist zu erwarten./ Danach vergehe ich so schnell wie Gras./ Von mir bleibt nur, was andere verwenden/ zu ihrem Nutzen und zu ihrem Spaß./ Gedanken, Verse, ein paar Gegenstände,/ durch mich entstanden, bleiben in der Welt./ Für eine Weile kann man sie noch brauchen,/ bis das, was keinem nützlich ist, zerfällt.“
Und zur Frage nach dem Lieblingsgedicht, die die Zuschauer im Neuen Schauspielhaus übrigens nicht oder nur sehr zögerlich beantworten konnten, habe ich natürlich auch nachgedacht nach diesem Abend. Abgesehen davon, dass ich mehrere habe, summen in meinem Kopf schon seit vielen, vielen Jahre die Abschlusszeilen eines Gedichts der großen Ricarda Huch: „Ins Weltall deiner Hand bin ich gebettet – /Läßt sie mich los, stürz ich ein Nichts ins Nichts.“ Ach, ja. Also: Lesen Sie Gedichte! Noch besser, deklamieren Sie hin und wieder auch! Der Kosmos der Verse ist riesig.
Barbara Kaiser – 15. März 2025

Anna Magdalena Bössen mit Johann Wolfgang von Goethe.