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Gelöste Körper – Fat Studies für Deutschland

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Foto: Foto: Angelina Moles, Instagram @fiercefatfemme, Post vom 1. Januar 2024

Während eines Drogeriebesuches in Bad Bevensen hörte ich letztens ungewollt folgenden Fetzen eines Gesprächs zwischen zwei Frauen mit, welche sich über ihre Kämpfe gegen die Pfunde austauschten. Die von ihnen getätigten Aussagen sind vielen von uns bekannt: „Was die meisten nicht wissen ist, dass die ersten zehn Kilo, die man verliert, eh nur Wasser sind. Danach wird es viel schwieriger!“ – „Ja, ich habe es lange mit Weight Watchers versucht; es aber inzwischen aufgegeben.“ Ein ratloses Kopfschütteln und hilfloses Achselzucken folgte.
Als jemand, der im Bereich Fat Studies aktiv ist, fiel mir dieses Gespräch natürlich besonders auf. Ich hätte mich gerne am Austausch beteiligt, um den beiden von dem alternativen Umgang mit der eigenen Körperlichkeit zu erzählen, welchen die Fat Studies erarbeiten und anbieten. Andererseits fürchtete ich auch, als jüngere und schlanke Person unnötig belehrend zu wirken, sodass ich stillschweigend meinen Einkauf beendete. Das unterlassene Einmischen kitzelt mich jedoch seitdem in den Fingern, weshalb ich es hier schriftlich nachhole.
2004 in den USA entstanden und in Deutschland ein noch auf seine Institutionalisierung wartendes Forschungsfeld, sind die Fat Studies ein wissenschaftliches Aufbegehren gegen die unsere westliche Gesellschaft beherrschende und vom Kapitalismus (insbesondere der Pharmakonzerne, Fitness- und Schönheitsindustrie) getriebene „Fatphobie“. Dass keiner wirklich glaubt, dass „Fat-Sein“ eine Krankheit ist, beweist für Wissenschaftlerinnen die Legitimität, mit der weiterhin Scherze über dieses Phänomen gemacht werden. Nicht „Fat“ führt zu Krankheit (zur Bestätigung dieser Aussage liegen inzwischen einige Studien vor); doch die allgemeine Diskriminierung von „Fat“ führt zu einer Myriade von Krankheiten, sowohl psychischer als auch psychosomatischer Natur.

Der erste von den Fat Studies unternommene Schritt bestand in einer Zurückeroberung des Wörtchens „fat“ als gewollt vage und dadurch zur Neutralität fähig (im Gegenzug zu so diskriminierenden Begriffen wie „übergewichtig“, welcher ein unnötiges Mehr ausdrückt): „Fat“ ist eine Körperlichkeit wie jede andere. Doch damit nicht genug: Sie entwickelten „fat“ weiter als Ausdruck eines Zelebrierens einer konkreten Abweichung von dem uns alle marternden, da nur in der Momentaufnahme erreichbaren Körperideal des Dünn-Seins. Wir alle haben kräftigere und dünnere Körperteile, sind morgens nach dem Aufstehen dünner und abends nach einem leckeren Drei-Gänge-Menü dicker, und nehmen im Alter auf natürliche und unsere Gesundheit schützende Weise an Volumen zu. Daher haben wir alle Interesse an einem Aufweichen des gegebenen Schönheitsstandards!

Wenn ich also jemanden als „fat“ bezeichne, ist das eine Anerkennung ihres Trauens, die eigenen Unzulänglichkeiten wertzuschätzen. „Fat-Sein“ ist demnach mehr als ein (nur in Teilen zu manipulierender) Körperzustand. Vielmehr ist es eine gelöste Attitüde dem eigenen leiblichen Sein gegenüber. Endlich darf ein Bauch in seinem Pressen gegen ein eng anliegendes Abendkleid Entzücken auslösen, ebenso wie feminine Oberschenkel und wie sie beim Busfahren wackeln. „Fat“ ermöglicht ein Wahrnehmen von Selbst und Anderen, getrieben nicht länger von der Unterstellung von Maßlosigkeit, sondern von einem Sich-Freuen über gelebten Genuss.

Von „Fat“ als Denkwerkzeug hätte ich den beiden Frauen gern berichtet. Was dann alles in seiner Breite schön sein darf, bleibt noch zu erkunden, ebenso wie es noch zu entscheiden bleibt, wie man mit „fat“ im Deutschen umgeht. Bisweilen wird der englische Begriff übernommen (ähnlich des ebenfalls im Deutschen verwendeten Ausdrucks „people of color“). Ich plädiere jedoch dafür, das verwandte Wörtchen „fett“ ebenfalls zu aktivieren, wie es von der Popkultur ja auch schon unternommen wurde – man denke nur an die Hamburger Band Fettes Brot.

[Swantje Martach]

Bestattungshaus Kaiser