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Raus auf die Straße – Interview mit Christian Helms

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„Sie brauchen eine Chance“

Stadtjugendpfleger Christian Helms zu Zukunftsängsten, Ideen und Hoffnungen

Christian Helms ist seit 1994 Stadtjugendpfleger der Hansestadt Uelzen. Heute ist er Fachbereichsleiter und zuständig für die Bereiche Schule und Sport, Kindertagesstätten, Soziales/Familien- und Servicebüro, Stadtbücherei sowie die Kinder- und Jugendförderung. Die Barftgaans hat mit ihm über die Jugendarbeit in Uelzen gesprochen.

Ist es heutzutage schwer, ein Jugendlicher zu sein?
Ja. Anders als in den zurückliegenden Jahrzehnten beeinträchtigen Zukunftsängste heute das Leben vieler Jugendlicher. Es gibt deutlich mehr globale Krisen wie etwa den Klimawandel und Kriege und auch die Corona-Pandemie hat ihre Spuren hinterlassen. Doch es sind nicht nur die scheinbar großen Themen, die viele Jugendlichen berühren. Die Sorge, durch Armut ausgegrenzt zu sein, Mobbing, Versagensängste und vieles andere mehr beschäftigen die Jugendlichen in ihrem täglichen Leben.

Wie lässt sich da gegensteuern?
Die Aussage, dass wir die Jugendlichen von der Straße holen müssen, ist meines Erachtens nicht zeitgemäß, war es vermutlich auch noch nie. Im Gegenteil, es gilt, ihnen Begegnungsmöglichkeiten im nichtdigitalen, öffentlichen Raum zu bieten, um einer Vereinsamung entgegenzuwirken und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass Jugendliche untereinander mehr in Interaktion treten und die Deutungshoheit der Krisen nicht den Algorithmen und Leuten überlassen wird, die sich die Ängste und Sorgen zunutze machen. Außerdem bietet das auch Möglichkeiten, dass Erwachsene mit Jugendlichen in den Austausch gehen. Dazu braucht es Begegnungsstätten wie etwa Jugendzentren, Sport- und Freizeitangebote. Denn viele Jugendliche werden heute nicht mehr erreicht, weil die Anforderungen aus Schule und das gestiegene Maß an digitaler Kommunikation wenig Raum für mehr lässt. Der Rückzug führt nicht selten zu sozialer Isolation mit allen ihren negativen Begleiterscheinungen. Als Eltern braucht man nur einmal zu vergleichen, wie groß der Anteil des gemeinsamen Spiels der Kinder außerhalb der Schule und Kita vor Corona und jetzt ist, um da diese Veränderung zu erkennen. Aber nicht nur aus sozialer, sondern auch aus gesellschaftspolitischer und wirtschaftlicher Sicht sollten wir alles unternehmen, um Kinder und Jugendliche hin zu einer guten Teilhabe, unter anderem an der Arbeitsgesellschaft zu führen, denn der noch weiter fortschreitende Fachkräftemangel kann es sich gar nicht erlauben, diese zu verlieren.

Was wird seitens der Hansestadt Uelzen unternommen, um der zunehmenden Isolation der Jugendlichen entgegenzuwirken?
Ein gutes Beispiel dafür sind Freizeitangebote im Kinder- und Jugendzentrum BAXX, die Einrichtung von Freiflächen wie der Skateanlage, des Dirt-Bike-Parks in Oldenstadt oder die offenen Ballsportanlagen in Uelzen. Herausheben möchte ich aber auch die Deutschland-Tour für Jugendliche, die wir bereits sechsmal angeboten haben. Dieses Konzept hatten wir entwickelt, nachdem die seit Ende der 90er Jahre stattfindenden Bauwagencamps aus organisatorischen Gründen nicht mehr durchgeführt werden konnten. Damals kamen in umgebauten Bussen, Bauwagen, Anhängern Jugendliche aus unterschiedlichsten norddeutschen Kommunen für eine Woche zusammen, um die Freizeit selbstbestimmt zu gestalten. Daraus hat sich die Deutschland-Tour als Nachfolgekonzept entwickelt, die wir auch im Juli 2025 wieder anbieten werden und die sich an junge Heranwachsende zwischen 15 und 18 Jahren richtet. Jugendliche aus der Hansestadt können sich über unseren Veranstaltungskalender dazu anmelden.

Wie läuft eine Tour ab?
Im Vorfeld der Tour laden wir zu einem Vorbereitungsgespräch ein. Dort werden dann erste Eckpunkte festgelegt und mögliche Ziele diskutiert. Die Frage „Wo wollt ihr hin?“ steht im Mittelpunkt, wobei erfahrungsgemäß das Sehnsuchtsziel klar ausgemacht ist – es soll weit weg in die Berge gehen. Nicht wenige der 14 Teilnehmenden haben noch nie in ihrem Leben die Alpen gesehen, und so stehen meistens das Allgäu oder Oberbayern ganz oben auf der Liste der anzusteuernden Regionen. Ob Nebelhorn oder Hochgrat, die Begeisterung, einmal einen Sonnenuntergang in den Bergen zu erleben, ist groß. Ab dem zweiten Tag legen die Jugendlichen jeweils das nächste Tagesziel fest. Den Betreuenden bleibt dann nur wenig Zeit, um für die Gruppe eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Den Mittelrhein sehen, über Hängebrücken gehen, den Kölner Dom bestaunen, einmal das Musical Starlight Express in Bochum erleben, einmal im Ruhrpott „unter Tage“ fahren und selbst entscheiden dürfen, wo und was es zu essen gibt – die Wünsche sind durchaus vielschichtig.

Das klingt sehr entspannt.
Ist es auch. Die Jugendlichen genießen es, einmal unter ihresgleichen entscheiden zu können, wie es weitergeht. Weit entfernt von Zwängen und dem Gefühl „Ich muss“. Das gibt ihnen ein Gefühl von Freiheit. Dabei ist die Gruppe durchaus eine Herausforderung, die die Jugendlichen in den letzten Jahren immer sehr gut gemeistert haben. Wenn wir ihnen einen gewissen Freiraum lassen, sind sie entsprechend motiviert und auch kompromissbereit. Sie lernen endlich einmal wieder, in sich hineinzuschauen und sich zu fragen, was sie selbst wollen, fernab vom Alltag, der vor allem davon geprägt ist, was man von ihnen erwartet. Das Handy ist zwar auch noch wichtig, aber in dieser Woche zählen nur die Gruppe, gemeinsames Erleben und Freundschaft. Jedes Jahr aufs Neue können wir erkennen, dass wir den Jugendlichen ein besonderes Erlebnis bieten, das den Alltag vergessen lässt und dessen Erfahrungen und Erkenntnisse sie weiterbringen.

Ein Highlight im Laufe des Jahres ist die Deutschland-Tour. Welche Projekte stechen außerdem aus dem „normalen“ Angebot heraus?
Zum einen haben wir da die Kinderfreizeiten, die seit Jahrzehnten angeboten werden. Ob auf die Insel Fehmarn in der Ostsee oder nach Waldeck am Edersee, Burg Hessenstein oder Hess. Oldendorf, es wird Jahr für Jahr ein abwechslungsreiches Programm zusammengestellt. Mario Steiner und sein Betreuerteam leisten dabei einen richtig guten Job.

Und ist da ja auch noch die Stadtwette…
Um die hat sich inzwischen ein richtiger Hype entwickelt. Ziel der Veranstaltung ist es unter anderem, eine Nähe zum Bürgermeister zu schaffen, sich als Kind auch einmal zu trauen, ihn anzusprechen. Es geht aber auch darum, den Weltkindertag zu feiern und die Kinderrechte bekannter zu machen. Besonders gern erinnere ich mich da an die Wette, als Bürgermeister Jürgen Markwardt sich als Spiderman von der Galerie des Rathauses abgeseilt hat. Ein absolut tolles Erlebnis war auch die Roller- und Bobby-Car-Wette, die unsere Erwartung bei weitem übertroffen hat. Für 2025 haben wir uns übrigens schon wieder etwas Originelles ausgedacht.

Auf was können wir uns 2025 außerdem freuen?
Auf eine Sache freue ich mich ganz besonders: Noch in diesem Jahr soll in Uelzen die Wahl zu einer Jugendvertretung stattfinden. Im Vorfeld haben Claudia Brunsemann und ich bereits einige Workshops mit Jugendlichen und Erwachsenen abgehalten, haben ein Netzwerk mit Jugendlichen sowie Vertretern der Politik und Verwaltung geknüpft. Noch laufen die letzten Gespräche, aber ich gehe davon aus, dass es nach der Sommerpause, bzw. Richtung Herbst eine von Jugendlichen gewählte Jugendvertretung geben wird.

Dirk Marwede
Foto: Christian Helms

Bestattungshaus Kaiser