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Ja, das Leben!

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Hans-Helmut Decker-Voigt las im Neuen Schauspielhaus aus seiner sich in Arbeit befindenden Autobiografie

Lässt man die erotische Deutung – „Mein Liebesleben“ – hier mal außen vor, dann spricht der Buchtitel „Mein liebes Leben“ von ganz viel Gelassenheit. Von resümierender Zufriedenheit auch, von Dankbarkeit und Demut. Davon, dass ein langes Leben, das in schweren Zeiten begann und sehr holprig startete, zu solch glücklichem Ende kam. Professor Hans-Helmut Decker-Voigt, Musiktherapeut und Hochschullehrer (i.R.), Fachbuchautor, Kolumnist und fleißiger Schriftsteller, las anlässlich seines 80. Geburtstages im Neuen Schauspielhaus aus seiner Autobiografie. Als vorletzte Nachfeier sozusagen; und weil er sich diesem kleinen Hause an der Rosenmauer seit dessen Anfängen verbunden fühlt, Kuratoriumsmitglied war. – Das in Arbeit befindliche Buch versteht sich als Abschluss der „Pfarrhaus“-Saga, in deren Bänden die Familiengeschichte des Autors auserzählt und ein Panorama der Zeit aufgeblättert wurde. Mit all ihren Wunderlichkeiten, Begebenheiten, Kämpfen. In dem den Lesern das große Personentableau begegnet, in dessen Schoße Decker-Voigt aufwuchs. Da Kindheit jedoch kein ewiges Haus ist, machte der Junge, im Befreiungsjahr 1945 geboren, die eigenen, in der Summe außerordentlich erfolgreichen Schritte heraus.

Erich Kästner nannte die Literatur eine „Pharmazie der Seele“. Ob er damit sich selbst, den Schriftsteller, meinte, dem das Schreiben so manche Wunde heilt, oder die Leserschaft, die sich „den eigenen Kummer von anderen Leuten formulieren“ lässt? Wenn beide Seiten etwas davon haben, darf man das wohl Idealfall nennen. Für Decker-Voigts Kolumnen gilt oft, dass man ein „Das-kenn-ich-auch“ seufzt. Schreiben ist Transportarbeit – aber kommt das Transportierte auch an? Der Autor Decker-Voigt hat nie in der Hängematte der Erinnerung gefaulenzt, sondern der eigenen Vergänglichkeit zahlreiche Schriften abgerungen. Obendrein ist er ein Plauderer, der für sich einzunehmen weiß. So gesehen konnte der Abend an der Rosenmauer nur ein gelungener sein.

Die Lesung begann mit des Autors eigener Zeugung in einer Schlosskapelle in Wien, für die ein gütiger Pater dem jungen Ehepaar den Schlüssel zur Verfügung stellte. Wenn auch vielleicht nicht für das Nachstellen des Sündenfalls. Man traf sich in der geografischen Mitte: Der Mann angereist vom Balkan, die junge Frau aus der Heide. Man schrieb das Jahr 1944. Dass der Vater seinen Sohn nie auf den Arm nehmen wird, ahnen die frisch Verliebten da noch nicht… Decker-Voigt hat seine Zuhörer, es sind vielleicht 35 gekommen, von Beginn an auf seiner Seite. Er erklärt seinen langen Namen Hans-Heinrich-Helmut Michael Hermann, durchschreite mit ihnen die Schulzeit, die sich für ihn als einziger Privatschüler seiner Mutter gestaltete, was erklärt, dass die Naturwissenschaften in seinem Leben nie eine Rolle spielen werden. An dieser Stelle ahnt man die Defizite, die ein fehlendes Schulkollektiv hinterlässt – hatten wir nicht genau diesen Umstand in Coronazeiten für alle Kinder laut beklagt? Aber es ist auch ein wenig Bedauern für diesen Hans-Helmut, der nie erfuhr, wie man sich im Chemieunterricht kollektiv die Nase zuhält beim Experiment mit Schwefelwasserstoff. Wie man sich bog vor Lachen, wenn sich dem Mitschüler beim Elektrizitätsnachweis die Haare sträubten oder man die Augen verdrehte bei den vielen Namen der Abstammung: Australopithecus, Homo erectus heidelbergensis oder Pitecanthropus. Es erging Decker-Voigt wohl ein bisschen wie in der „Feuerzangenbowle“, nur dass er „richtige“ Schule nie nachgeholt hat. Was für ein hochbegabtes Kind, das er wohl war, fast tragisch ist.

Trotzdem ist der 80-Jährige in der Heide angekommen, „weil ich viel zu lange weg war“. Er vergaß an diesem Abend nicht, die Geschichte des Kennenlernens mit seiner Frau Christine zu erzählen und ihr zu danken, ohne die seine (auch wissenschaftliche) Laufbahn wahrscheinlich eine andere geworden wäre. Er bekannte, dass er Patient (!) und Therapeut in der psychiatrischen Abteilung war, von der Hetzjagd im Netz, die er 14 Jahre lang aushielt, wofür man nur Bewunderung haben kann und erwähnte die Krankheiten, die er als Kind und Jugendlicher durchzumachen gezwungen war. Die auch die vielen besonderen Lebenswege erklären und dass er oft genug den zweiten Schritt vor dem ersten machte (so auch der Titel seines ersten Buches).

Er sei froh, so alt geworden zu sein, sagte Hans-Helmut Decker-Voigt am Schluss. Und vielleicht könnte er sich mit diesem Liedtext der Dichterin Gisela Steineckert identifizieren. Er wird sie nicht kennen, denn sie kommt aus dem Osten und wird im Mai 94 Jahre alt. Obwohl er sich neuen Erfahrungen und Einsichten nie verschloss und immer offen auf alle Menschen zuging. Gesungen hat den Text Jürgen Walter. Vielleicht googelt er es ja mal?

„Mein seltsames Leben/ Schlägt lang seine Bahnen/ Zu fernfernen Ahnen/ Und weithin voraus. /… Mein seltsames Leben/ Weit fort von der Wiege/ Gab Trauer und Siege/ Das kennt jedermann./ …Mein seltsames Leben/ Verwundet, genesen/ Es ist mein gewesen/ Mit Dämmern und Schein/…Ich hab es erfahren/ Es reift mit den Jahren/ Es trug mich hierher/ Mir bleibt mein Lied/ Oft brauch ich kaum mehr.“
Barbara Kaiser – 06. April 2025

Bestattungshaus Kaiser