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Joachim Vogelsänger saß im achten St.-Marien-Sommerkonzert an der Orgel

War es wirklich schon wieder das vorletzte Sommerkonzert in St. Marien? Das heißt ja auch, dass der Sommer vorbei ist. Aber die achte Stunde dieser Reihe wehrte er sich nach Kräften: Aufregend-kraftvoll, insistierend, lockend, selbstbewusst. So jedenfalls das Spiel von Joachim Vogelsänger, der an der Orgel saß. Sein Repertoire: 100 Jahre französische Orgeltradition. Die Franzosen machen ja vieles anders, einiges auch besser. So holten sie die große Sinfonik auf der Orgel in die Konzertsäle, ganz nach dem Wahlspruch von César Franck „Die Orgel – mein Orchester“. Selbstverständlich darf man unseren Nachbarn deshalb nicht ihre Religiosität absprechen. Das Programm bewies das. Neben einer stilistisch aufregenden Darbietung durch den Solisten.

Die Konzertnummern nahmen das mit den 100 Jahren locker, denn es gab Noten von Charles-Marie Widor aus dem Jahr 1896. Ansonsten jedoch hielten sich die Partituren ans Jahrhundert. Zum Beispiel Marcel Dupré: Aus der Sinfonie-Passion op. 23 (1924) „Die Welt in Erwartung des Heilands“. Hier ist die Orgel eine Geschichtenerzählerin, die „Erwartung“ zunächst forcierend darstellend, dann, vielleicht im Zweifel, irrlichternd, ehe eine entschlossene Akkord-Chromatik die triumphale Erfüllung verkündet. Die letzten vier dissonanten Akkorde jedoch verweisen bereits auf das Ende der Geschichte…

Die folgenden Variationen und Toccata über einen Choral von Charles-Marie Widor waren besinnliche Klangchluster, die Toccata munter, mit einem schönen Motiv im Manual, während die Bässe wühlten – bis zum großen Forte-Ausbruch, der zu einem schlicht-fließenden Ende findet.

Das Lamento von Jehan Alain (1930) ist ein Andante aus nur wenigen Tönen. Am aufregendsten für mich war Charles Tournemires „Choral-Improvisation sur le Victimae paschali“ (1930), zum Osteropferlamm also. Kraftvoll hält der Organist Ordnung im Fortissimo-Chaos der Töne. Ein wahrer Lobgesang auf dieses Fest, auch wenn das fürs Lamm – in beiderlei Gestalt – nicht glücklich endet.

Joachim Vogelsänger hat in seinem Spiel eine Unbeirrbarkeit, die staunen macht; sein tolldreister Zugriff auf die Noten, ob das „Halleluja“ von Olivier Messiaen aus dessen „Himmelfahrt“ (1939) oder die Orgelstücke op. 58 von Jean Guilloes aus dem Jahr 1990. Die sind eher witzige musikalische Einwürfe, ein wenig „Amerikaner in Paris“ und Stückchen Kinderlied.

Als Abschluss wählte der Gast aus Lüneburg „Èvocation II“, also eine „Beschwörung“, aus dem Jahr 1996, von Thierry Escaich. Ein insistierender Akkord wird umspielt von Dissonanzen und großem Tohuwabohu, das der Solist jedoch auf bewunderungswürdige Art im Griff hat.

Das Konzert in St. Marien brachte auf unterschiedliche Weise Ungewohntes zu Gehör. Man konnte sich aber den Partituren ergeben, sowieso müßig, Strukturen hinterherzujagen. Joachim Vogelsänger bewies, was das Instrument Orgel, was die „Königin“, zu leisten in der Lage ist. Sie kann Orchester sein, in der Tat!

Am Samstag, 31. August 2024, geht es im neunten und letzten Sommerkonzert leiser zu: Zu Gast werden sein Luisa Piewak (Querflöte) und Simon Gutfleisch (Gitarre). Sie unternehmen musikalisch „Dream Travels“ – Traumreisen. 16.45 Uhr, St. Marien.

Barbara Kaiser – 25. August 2024

 

 

 

 

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