Der Schreibtisch von …
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Gisela Mennerich und Marten Thomsen. Foto: Katrin Marie Arlt
Foto Gisela Mennerich
Wann haben Sie zuletzt mit einem Bleistift geschrieben? Oder einen mit Tintenfüller handgeschriebenen Brief gelesen? Können Sie sich noch an den Duft von Papier erinnern, das sich – gespickt mit Erinnerungen und Zeitzeugnissen – in Pappdeckeln stapelt? Ein Besuch in dem kleinen Arbeitsraum von Gisela Mennerich im Archiv des Museumsdorfes in Hösseringen lädt in dieser schnelllebigen, nach Zukunft heischenden und immer weiter digitalisierten Welt ein zu einer Zeitreise – in vielerlei Hinsicht.
Es war mehr ein Zufall denn ein Plan: Vor acht Jahren kam Gisela Mennerich in das Museumsdorf. Im Gepäck, sorgfältig verstaut in Taschen, der Nachlass ihrer Eltern: Bücher, Schriften, handgewebtes Leinen und anderes. Der Empfang durch den Dokumentar des Museumsdorfs, Marten Thomsen, führte zu einem längeren Gespräch und mündete in ihrer spontanen Frage: „Ich habe Geschichte studiert. Kann ich helfen?“ Diese Frage führte dazu, dass die heute 77-Jährige im Archiv des Museums einen Raum belebt und Schriftstücke aus Nachlässen sichtet, ordnet, archiviert – und bewahrt.
Ölbilder mit Heidemotiven, Regale mit Akten und Pappordnern: Hier findet man Gisela Mennerich an ihrem klar geordneten Schreibtisch. Ausgestattet mit Computer, Drucker, Papieren und Stiften ist der Schreibtisch Teil eines für die meisten unsichtbaren Netzes, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verwebt. Die wachen blauen Augen leuchten vor Begeisterung, wenn sie von ihrer Arbeit berichtet, die andere im Wortsinn als „staubtrocken“ bezeichnen würden. Eine Sisyphos-Arbeit. Kisten mit Papieren und Dokumenten, jede Woche neue. Als Museumsleiter Dr. Ulrich Brohm ihr den Schlüssel für ihr Büro übergab, habe er gesagt: „Sie haben alle Zeit der Welt. Wir arbeiten hier für die Zukunft.“
Vorsichtig zieht sie, die Hände in weichen, weißen Handschuhen, einen kleinen, vergilbten Brief aus einer großen, flachen Schachtel. Einer von Hunderten, die mit einem Nachlass auf ihrem Schreibtisch gelandet sind. Feldpost, die Zeugnis ablegt über die Geschichte und Geschichten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Auf vielen handgeschriebenen Seiten, auf fragilen Papierstücken, einst einzeln in dünnwandige Umschläge gesteckt, wird Erinnerung lebendig. Nach und nach entziffert sie mit einer großen Lupe die heute ungewohnte Kurrentschrift. Sorgfältig – und mit Leidenschaft: „Ich bin wie ein Teil einer langen Kette, die in den Erinnerungen forscht und diese an nachfolgende Generationen weitergeben kann.“
Diese und andere Dokumente werden digital archiviert („Da musste ich mich wirklich einfuchsen“) und dann in speziellen Kartons in einem großen Lagerraum, der bis unter die Decke mit engstehenden Regalen bestückt ist, aufbewahrt. Mithilfe von Nummern und Buchstabenfolgen sind sie jederzeit auffindbar: stille Hüter der Vergangenheit für kommende Generationen, kleine Puzzlesteine der Erinnerungskultur.
Wenn Gisela Mennerich von ihrer Arbeit im Archiv spricht, sprudelt es nur so vor kleinen Geschichten, Anekdoten von Begegnungen und großer Freude. Aufgewachsen in einem landwirtschaftlichen Betrieb Mitte des 20. Jahrhunderts, ist ihr Weg keinesfalls typisch: Dorfschule, Hauswirtschaftslehre, Immaturen-Prüfung, Studium. Schritt für Schritt ist sie weitergegangen und findet sich nun an dem für sie perfekten Ort: „Bei mir wohnen zwei Seelen in einer Brust: die bäuerliche Herkunft und die Geisteswissenschaft. Ich finde es so schön, dass ich hier all die Erkenntnisse, die ich in meinem Leben gesammelt habe, einbringen – und neue sammeln kann.“
Was darf auf meinem Schreibtisch auf keinen Fall fehlen?
Die Textilhandschuhe, ein gespitzter, weicher Bleistift, das Radiergummi und eine Lupe, um die Schriften zu entziffern.
Mein Schreibtisch ist für mich
… ein spannender Platz, an dem ich das Gefühl habe, ich lerne Menschen kennen, denen ich sonst nicht begegnet wäre.
Wenn ich einen Wunsch frei hätte: Was müsste auf meinem Schreibtisch zu finden sein?
Auf diesem Schreibtisch vermisse ich nichts.
Kathrin Marie Arlt