Chronist und Menschenkenner – Das Museum Uelzen widmet Wilhelm Thiermann eine Ausstellung
Vernissage Samstag, 23. November 2024, 18 Uhr
Als Zugereister hat man es ja ohnehin nicht einfach. Um jedoch alles Wirken der Lokalmatadore, die in Uelzen und Umgebung Kunst- und/oder Literaturgeschichte schrieben, zu durchschauen, dazu braucht`s zusätzlich ein wenig länger. Dabei lohnte sich, einmal nachzufragen. Nicht erst seitdem im Eschenkamp Straßen nach vielen von ihnen benannt wurden. Ob die Bewohner wissen, wer Karl Schlockermann, Ernst Pingel, Heinrich Schwieger oder Grete (Wolf) Schlemm waren?
Wilhelm Thiermann gehört auch dazu. Das ist so ein Name, den viele mit dem Nachsatz aussprechen: Hab` ich auch einen zu Hause. Und wahrscheinlich besitzt fast jeder Alt-Uelzener ein Bild oder eine Zeichnung des Rechtsanwaltes an der heimischen Wand. (Und sogar ich als Zugereiste habe eins.) Wilhelm Thiermann, der im Jahr 1879 in Nassau an der Lahn geboren wurde, wird nachgesagt, dass er malte, wo er ging und stand. Er soll sogar einem Vorsitzenden Richter, der die Verhandlung schließen wollte, ins Wort gefallen sein mit: „Moment, ich habe meine Zeichnung noch nicht fertig!“ Das könnte unter die Legenden fallen. Wahr hingegen ist, dass der 66-Jährige ungeachtet des Schusswechsels in Uelzens Straßen im Frühjahr 1945 vor seinem Haus an der Gudesstraße 1 auf seinem Malschemel saß und die brennende St.-Marien-Kirche zeichnete. Bis seine Tochter Rosemarie ihn dringend und nachdrücklich nötigte, ins Haus zu kommen.
Im Jahr 2002 habe ich die damals 84-jährigen Tochter, Rosemarie Buchtien, getroffen. Sie löste gerade ihren Haushalt auf, um in die Seniorenresidenz umzuziehen. Zum Nachlass gehörten auch fast 1000 Bilder ihres Vaters, die sie dem Museums- und Heimatverein schenkte, wo der zumindest inventarisiert wurde und nun auch mit umzog ins neue Domizil an der Bahnhofstraße. Dort entdeckte ihn Mitarbeiterin Heike Thiele – auch eine Zugereiste – und war begeistert. Und es stand fest: Eine Ausstellung muss gemacht werden mit diesem schlummernden künstlerischen Schatz.
„Er war ja so produktiv als Maler“, erzählte seine Tochter, Dass er nebenher noch Briefmarken sammelte und Ahnenforschung betrieb, daran erinnerte sich die alte Dame auch. Und sie weiß auch noch, dass sie nie ohne einen Skizzenblock auf Reisen gehen durfte.
„Es endete jedes Mal mit Tränen, weil eben keiner von uns vier Kindern sein Talent geerbt hatte.“ – Thiermann habe ein „künstlerisches Lebenswerk von großem heimatkundlichem Wert hinterlassen“, war sich Hans E. Seidat, der ehemalige Verlagsleiter der Allgemeinen Zeitung, sicher, der ein wunderbares Buch mit zahlreichen Aufsätzen über und noch mehr Bildern von Thiermann heraus gab (1968). Darin erinnerte sich Enkel Christian, dass sein Großvater „jeden Pinselstrich…mit einem leisen, tiefen Brummen und lebhaftem Geflöte“ begleitete. Ohne diese Geräuschkulisse, die er sich bei anderen allerdings strikt verbat, entstand keine Arbeit.
Wilhelm Thiermann: Selbstporträt
Heidelandschaft
Viele dieser Skizzenbücher sind jetzt in der Ausstellung zu betrachten, die „unheimlich viel zu sehen“ bietet, sagt Kuratorin Heike Thiele. Die Auswahl erfolgte ausschließlich über die künstlerische Qualität der Arbeiten. Die Konzeption ist übersichtlich und thematisch geordnet. Da gibt es zuerst Ansichten zur Familie und den Kindern, dann die Gerichtsbilder, Zeichnungen und Ölbilder aus Uelzen – auch das zerstörte Uelzen nach Kriegsende – und die Porträts. In den Vitrinen in der Raummitte liegen die Skizzenbücher. Es ist ganz unglaublich, mit wie wenig Strichen Thiermann einen Eindruck, einen Charakter zu schaffen in der Lage war. Ganz minimalistisch zum Beispiel eine Frau auf einem Pferd, die dem Betrachter den Rücken zuwendet und trotzdem eine prickelnde Erotik ausstrahlt.
Der junge Wilhelm sollte die Offizierslaufbahn einschlagen. Nach einer überstandenen Kinderlähmung jedoch war dieser – vor allem seines Vaters – Wunsch erledigt. Selbst Offizier, gestattete der dem Sohn jedoch nicht, Kunst zu studieren, er zwang ihn in die Jura-Ausbildung. Dass Thiermann darin nicht unglücklich wurde, verdankt er wohl allein seiner Malerei. Im Jahr 1904 kam der Jurist nach Uelzen. Ohne ihn wären übrigens die früheren Jahrgänge des „Heimatkalenders“ nicht zu denken gewesen. Bereits für die erste Ausgabe im Jahr 1927 besorgte er die Illustrationen. Bis zu seinem Tod 30 Jahre später hatte er über 250 Zuarbeiten geleistet, die dem heimischen Jahrbuch eine besondere Note verliehen. Vor allem in seinen Stadtansichten war der Maler der Chronist, denn er schuf ein einmaliges Bildmaterial aus Uelzens Vergangenheit. Was später vielleicht Dieter Pietsch vom Kreismedienzentrum mit seinen Fotografien leistete, erarbeitete Thiermann mit seinen Ölbildern, Federzeichnungen und Aquarellen. Er nahm sich – inzwischen nicht mehr existente – Landschaften zum Modell, bannte historische Winkel der Stadt aufs Papier, hielt fest, was Krieg und die nachfolgende (auch rücksichtslose) Technisierung dem Verlorensein anheim gaben. Seine Aquarelle sind von zauberhafter Unbeschwertheit, die Ölbilder von der langsamen Behäbigkeit und stillen Größe dieser Landschaft, nie jedoch zu pastos.
Von der inzwischen vergangenen Zeit absolut unberührt jedoch sind Thiermanns Menschen-Bilder, die überall entstanden, wo er war. Bei Gericht, wie bereits erwähnt, im Restaurant, auf den Straßen, in Geschäften, beim Schützenfest, auf Reisen. Der Künstler muss sich übrigens schon damals über lärmende deutsche Touristen gegrämt haben, eine Bleistiftzeichnung aus dem Süden trägt den bezeichnenden Titel: „Der stets brüllend lachende Teilnehmer einer Reisegesellschaft“. Der malende Jurist besaß offenbar eine große Menschenkenntnis und eine die Situation perfekt erfassende Beobachtungsgabe. Wie sehr er mit ein paar Strichen seine Mitbürger typisierte, wie er aus Haltungen auch Gesinnung zu machen verstand, gereichte bis heute jedem Karikaturisten zur Ehre.
Genau wie sich Thiermann um die künstlerischen Probleme seiner Zeit nicht gekümmert hat, sie nur zur Kenntnis nahm, besitzt seine Biografie, die das „Dreikaiserjahr“ genauso erlebte wie zwei Weltkriege, einen weniger schönen Fleck: Thiermann war dabei, als das Eigentum jüdischer Mitbürger versteigert wurde. Warum die nicht mehr Uelzener waren, das weiß Geschichte zu berichten. Aber auch hier gilt für die Bewertung, wie in so vielen anderen Situation auch: Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein! Thiermann liebte in seiner Malerei das Licht und seinen Kontrapunkt, den Schatten. Sollte er die in den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht wahrgenommen haben? Wir können ihn nicht mehr befragen, sondern nur noch die hinterlassenen Zeugnisse, die Momente des Augenmenschen Wilhelm Thiermann, der alles festhalten musste, was er sah, zur Kenntnis nehmen. Die Ausstellung im Museum ist zu sehen bis April 2025.
Barbara Kaiser – 20. November 2024