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Allgemein Kolumne

Von Netzen und Knoten

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Foto: Swantje Martach (KI-generiert über DeepAI)

Hinter den Dingen

Es ist Montagmorgen. Das Wochenende war erholsam, doch jetzt stellt sich direkt wieder eine gewisse Wochen-Überforderung ein: Soll man erst aufräumen, oder direkt anfangen zu arbeiten? Erst die E-Mails schreiben, oder erst die Zähne putzen? Die Küche schreit nach einer Putzpartie, der Geschirrspüler möchte geleert werden, aber der Rücken ruft nach einer Runde Yoga. Und dann laufen wir noch an diesem Möbelstück vorbei, ein billiger Deal von Ebay Kleinanzeigen, der schon seit Wochen auf einen neuen Anstrich wartet. Warum haben wir uns am Wochenende bloß erholt, und nicht geschliffen und gestrichen? Die Frage, die hinter all dem steht, ist: Wer ist wichtiger, wem soll man zuerst Genüge leisten, den Dingen oder uns selbst?

Doch was ist das überhaupt, ein Ding? Wir lernen die Welt als aufgebaut in Dinge: Das ist das Auto. Das ist das Haus. Hier ist der Stift. Da ist die Katze. So gibt es unsere Sprache vor. Dinge sind demnach so etwas wie die atomistische Struktur unseres Alltags: Unsere kleinste Denkeinheit. Aber was genau ist eine Katze? Ein Knäuel aus weichem Fell und rauer Zunge, grünen Augen und Tierarztkosten. Ein Mitbewohner unseres Hauses, ein Teil der Familie, vielleicht ein Glied in der Balance unseres Hofes (bzgl. Fauna und Hygiene), ein Vertreter ihrer Art, eine Gefahr im Verkehr, ein Schlechte-Laune-da-schlechte-Note-Wettmacher. Wo genau liegen also die Grenzen einer Katze (und uns)?

Und was ist ein Haus? Es ist ein Netz aus diversen Zimmern, aber auch aus Kabeln, Rohren, Bewohnern, Zeiten (die Fassade mag von 1910 sein; die Küche jedoch von 2024). Und es ist ein Knoten in diversen Netzen, etwa dem Netz des Dorfes, der bewohnenden Familie, in der Beziehung von Mieter und Vermieter, ein Bestandteil von Verträgen und Steuern. Ein Haus ist demnach nicht einfach ein Haus. Vielmehr ist es mehr und weniger, größer und kleiner als „das Haus“, immer ein anderes, immer im Werden (Verfall, Dekoration, Jahreszeiten, Einrichtung, Renovierung, etc.).

Haus, Katze, ich: Wir sind miteinander verflochten. Das Haus ist mein (Miet-)Besitz und meine Identität. Ich bin im Haus, lebe darin, aber das Haus ist auch in mir, in meinen Gedanken und To-Do-Listen, ist vielleicht mein ganzer Stolz, mein Lebensprojekt. Dinge sind dazu gemacht, uns Menschen zu dienen. Ein Kleid ist dazu da, angezogen und getragen zu werden. Ein Stift existiert, um mit jedem gemalten Strich und jeder Drehung des Anspitzers kleiner zu werden. So war und ist noch immer die moderne Weltsicht. Doch dient der Mensch nicht immer auch den Dingen? Und ist „der Mensch“ nicht auch eine solche dinghafte Einheit, die gar nicht wirklich funktioniert (siehe oben: bestehend aus etwa Rücken, Zähnen, E-Mails und Möbelkauf)?

Nun ist Komplexität der ethische Ruf unserer Zeit: Schaut her, es ist doch nicht so leicht wie gedacht! Wenn wir über weite Strecken immer die gleiche Pflanze kultivieren, zerstören wir damit das ökologische Gleichgewicht. Wenn wir billige Kleidung kaufen, herrschen dafür unmenschliche Arbeitsbedingungen und immense Landverschmutzung auf der anderen Seite des Globus. Komplexitäten bedürfen auch ihrer Anerkennung im Alltag: Ein Kind ist nicht einfach nur ein Kind, das Spiel und Spaß braucht. Es ist ein Geflecht aus Spielen, Ernährung, Vorlese-Sessions, Zimmer, Sport, Bildung, Kitzeln und Raufen, und und und, und auch ich als Mutter (die wiederum ein Netz ist aus: Hinwendung, Zufriedenheit, Laune, Zeit, usw.) bin Teil seines Geflechts. Und ich als Geflecht bestehe auch nicht nur aus „Mutter“. Ganz schön komplex.

Bleibt die Frage: Wem Vorrang gewähren? Wohl schon immer herrscht eine Zweiteilung der Positionen, welche ich als „Humanist“ und „Materialist“ beschreiben möchte. Der Humanist legt wert auf Menschen, sich selbst, Beziehungen. Der Materialist kümmert sich um, säubert, repariert zumeist Dinge. Während der Materialist in der Hochphase der Moderne (dem Zeitalter des Ichs) als Sonderling abgetan wurde, erhält er im Jetzt wieder vermehrt Anerkennung — was die Betitelung dieser Bewegung als „Neumaterialismus“ erklärt. Jener zeigt uns, dass Dinge und Menschen gleich viel wert sind, eben da sie nicht unabhängig voneinander sind. Allerdings ist auch seine Stellung nicht ohne Probleme: Wie zum Beispiel die Dekonstruktionslust handhaben, die vonnöten zu sein scheint, damit Kinder das Konstruieren lernen? Oder wie sich verhalten, wenn ein verliehenes Buch einfach nicht zurückgegeben wird? Die Freundschaft über das Buch stellen, und das Buch neu bestellen? Oder wirklich das Buch der Beziehung vorziehen, und die Freundin mit einem nachdrücklichen Zurückverlangen verärgern?

Swantje Martach

Bestattungshaus Kaiser

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