Lebenslinien zwischen Altmark und Wendland
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Foto: Eva Neuls
Das Zeitzeug:innen- und Ausstellungsprojekt „Die Grenze in der Feldmark“
von Karolin Quambusch & Christian Hellwig
Der Zeitzeuge Axel Kahrs wuchs im Wendland nahe der innerdeutschen Grenze auf. Kahrs erinnert sich an eine unbeschwerte Kindheit und Jugend im Zonenrandgebiet der Bundesrepublik. Welchen Einfluss die Nähe zur innerdeutschen Grenze auf sein gesamtes Leben hatte, wurde ihm erst in der Rückschau bewusst:
„Da war die Mauer, da fing die DDR an, gut, da gab es mal Unruhe, gab es mal Minen oder Flüchtlinge oder so was, aber ansonsten war das so eine, wie so ne kleine Spritze beim Arzt, wo man sagt: Ich betäubt das jetzt mal ein bisschen, ne.“ Also die Nerven waren da ein bisschen stillgelegt und das war tatsächlich ein Leerraum. Und in diesem Leerraum bin ich aufgewachsen, habe ich gespielt. Und heute weiß ich, was mir durch diese Betäubung alles gefehlt hat, was, was andere Leute in anderen Bereichen Deutschlands an Möglichkeiten hatten.“[1]
Die Zeitzeugin Sigrid Schulze zog 1970 hochschwanger zu ihrem Mann nach Zießau. Das altmärkische Dorf befand sich zur Zeit der deutschen Teilung innerhalb der militärischen Sperrzone der DDR. Sigrid Schulze war zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, dass Überwachung und Repression von nun an zu ihrem Alltag gehören würden. In ihren Erinnerungen dominieren jedoch die positiven Aspekte des Lebens im Sperrgebiet:
„Das war früher idyllisch und ruhig hier. Es kam keiner rein. Wir waren unter uns. Das war schön. Ich fand das immer schön. Nachts, wenn mir im Sommer warm war – Haustür, Fenster alles auf. Und es kam ja keiner. Ich konnte zum Konsum fahren, ich habe alle Türen aufgehabt.“[2]
Die Arbeit mit Zeitzeug:innen ist für die Vermittlung zeithistorischer Themen außerordentlich bedeutsam. Sie weiten den Blick weg von den großen Strukturen hin zu den einzelnen Menschen und ihrer subjektiven Wahrnehmungen, Erfahrungen, Verhaltensweisen und Deutungen. Dadurch werden die Vielfältigkeit und Komplexität historischer Ereignisse sichtbar. Der Quellenwert erzählter Erinnerungen geht aber weit über Einsichten in subjektive Wahrnehmungen der Menschen hinaus. Diese vermitteln einen Eindruck über Lebensverhältnisse und Alltagshandlungen sowie über Prozesse der Identitätsbildung. Sie ermöglichen Einblicke in Erinnerungsvorgänge, Verarbeitungsmuster oder Bewältigungsstrategien. Auch die Wirkung von Geschichtsbildern und ihre Bedeutung für eine Gruppe oder Gemeinschaft wird sichtbar.
In diesem Jahr jährt sich der Fall der Berliner Mauer und die Öffnung der innerdeutschen Grenze zum 35. Mal. Festzuhalten ist, dass die Erinnerung an die deutsche Teilung nicht etwa abgeschlossen ist, sondern in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen nach wie vor um Deutungshoheiten gerungen wird. Immer stärker rückt in diesem Zusammenhang in das Bewusstsein, dass es auch mit Blick auf die Teilungsgeschichte erforderlich ist, über Zäsuren hinauszublicken. Eine zentrale Forderung lautet in diesem Zusammenhang, dass in einer sachgerechten Aufarbeitung alle Erfahrungsräume ihren Platz haben müssen, wie der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk vor einiger Zeit in einem Essay zur Gegenwart der DDR-Geschichte schrieb und dabei zugleich auf die Tatsache hinwies, dass das Leben der Menschen vor und nach 1989 bei den meisten viel stärker miteinander verknüpft ist, als historische Epochenzäsuren vorgeben.[3]
Das Zeitzeug:innen- und Ausstellungsprojekt „Die Grenze in der Feldmark“ hat die Zielsetzung verfolgt, dieser Forderung gerecht zu werden. Die aus dem Projekt heraus entstandene Ausstellung, die derzeit im Kreishaus in Lüchow zu sehen ist, nimmt nicht für sich in Anspruch, die deutsche Teilungsgeschichte in all ihrer Komplexität und Ambivalenz erklären zu können. Vielmehr war es durch den Fokus auf die Erinnerungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen das Ziel, individuelle Erfahrungsräume aus der Region sichtbar zu machen und einen offenen Dialog zu ermöglichen. Die Ausstellung wird – nachdem sie im Lüchower Kreishaus zu sehen war – durch die am Projekt beteiligten Museen wandern und auch anderen interessierten Einrichtungen als Leihgabe zur Verfügung stehen.
Das Projektvorhaben hat dabei eine Region in den Fokus gerückt, die über Jahrzehnte unmittelbar und in ganz besonderem Maße von der deutschen Teilung betroffen gewesen ist. Auf dem Gebiet des heutigen Landkreises Lüchow-Dannenberg und dem Altmarkkreis Salzwedel bestanden vor 1945 umfassende Verflechtungen und Verbindungen, die als Folge der Teilung für Jahrzehnte unterbrochen bzw. massiv eingeschränkt wurden. Die damit verbundenen Auswirkungen hatten einen massiven Einfluss auf den Alltag der Menschen, die auf beiden Seiten der Grenze lebten.
Um den damit verbundenen individuellen Prägungen nachzuspüren, wurden insgesamt 20 lebensgeschichtlichen Zeitzeug:innen-Interviews geführt und nach geschichtswissenschaftlichen Standards der Quellenkritik ausgewertet. Die Interviews mit Menschen aus dem ehemaligen „Zonenrandgebiet“ der Bundesrepublik sowie dem grenznahen Raum der ehemaligen DDR bieten einen facettenreichen und multiperspektivischen Einblick in das Leben an, mit und nach der innerdeutschen Grenze. Das zentrale Ziel des Projekts war es, die Erzählungen der Zeitzeug*innen zu sammeln, für nachfolgenden Generationen zu bewahren und damit für die Forschung und die historisch-politische Bildung nutzbar zu machen.
Die Interviews wurden als Video- oder Tonaufnahmen aufgezeichnet und transkribiert. Das erhobene Material wird als Teil des „Gedächtnis der Region“ in das Kreisarchiv Lüchow-Dannenberg überführt werden. Damit wird es dauerhaft unter anderem für den Einsatz in der historisch-politischen Bildung zur Verfügung stehen. Über 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung vollzieht sich ein Generationswechsel, der die Aufarbeitung und den erinnerungskulturellen Umgang mit der deutschen Teilungsgeschichte nachhaltig verändern wird. Das kommunikative Gedächtnis – also die Erinnerung, die von den noch lebenden Zeitzeug:innen bewahrt wird – geht allmählich in ein kollektives Gedächtnis über. Menschen, die die deutsche Teilung noch bewusst erlebt haben, sind nunmehr mindestens ungefähr 50 Jahre alt. Das Alter der an diesem Projekt teilgenommenen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen lag zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 64 und 96 Jahren.
Das Projekt ist zudem ein positives Beispiel für den Mehrwert einer fruchtbaren Kooperation zwischen universitären Forschungseinrichtungen und zivilgesellschaftlichen und zum Teil ehrenamtlich getragenen Bildungseinrichtungen- und Initiativen. In dem von der Metropolregion Hamburg geförderten und vom Landkreis Lüchow-Dannenberg sowie dem Museumsverbund Lüchow-Dannenberg koordinierten Vorhaben waren neben dem Institut für Didaktik der Demokratie der Leibniz Universität Hannover das dem Museum Wustrow, das Swinmark-Grenzlandmuseum Göhr, das Grenzlandmuseum Schnackenburg, das Danneil-Museum Salzwedel sowie das Wendland-Archiv beteiligt.
[1] Zeitzeugeninterview mit Axel Kahrs vom 02.03.2023
[2] Zeitzeugeninterview mit Sigrid Schulze vom 16.02.2023
[3] Ilko-Sascha Kowalczuk, Zur Gegenwart der DDR-Geschichte. Ein Essay, in: Zeitgeschichte-online, März 2019, URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/zur-gegenwart-der-ddr-geschichte (Stand: 07.11.2024).
Zu den Autor:innen
Karolin Quambusch, Historikerin und freischaffende Kulturvermittlerin. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Didaktik der Demokratie ist sie seit vielen Jahren in Forschungs- und Vermittlungsprojekten zur Geschichte der deutschen Teilung, mit Fokus auf die innerdeutsche Grenze, tätig.
Dr. Christian Hellwig, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Demokratie- und Diktaturgeschichte im 20. Jahrhundert, Kultur- und Mediengeschichte.